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Die Teufelsbibel

Titel: Die Teufelsbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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und sehnsüchtig auf die Lichtmessprozession gewartet. Umso größer war ihre Enttäuschung gewesen, als sie nachlängerer Wartezeit am Fenster ihres Elternhauses von ihrem Vater freundlich darauf aufmerksam gemacht wurde, dass der derzeitige Bischof Christoph Andreas auch in diesem Jahr nicht genügend Mut gefunden hatte, dem protestantischen Eifer zu trotzen.
    Und nicht genug damit – erstmalig letztes Jahr zu Allerseelen hatte sich zwar eine kleine Gemeinde gefunden, die sich trotz des frühen Wintereinbruchs auf den Kirchhof gewagt und Lichter für die armen Seelen angezündet hatte; aber den Kindern war untersagt worden, mit den Seelenwecken von Haus zu Haus zu laufen, was letztlich ohnehin egal war, weil sich kein katholischer Bäcker gefunden hatte, der Seelenwecken gebacken hätte, abgesehen vom Bäckermeister Khlesl gegenüber dem Haus der Wiegants, von dem jedoch kein Katholik in der Kärntner Straße etwas kaufte, weil er Protestant war und damit auf jeden Fall eine verlorene Seele .
    Was sollte ein Kind mit sich anfangen, wenn es keine kirchlichen Festivitäten gab, bei denen man zusehen konnte? Genau … man konnte beispielsweise der Frage nachgehen, ob der weiße Belag, der bei Frost auf der metallenen Abflussröhre lag wie ein dichter Pelz, süß oder sauer schmeckte.
    Agnes wandte sich ab und tat so, als hätte sie nicht bemerkt, dass ein Mann sich ihrem Elternhaus näherte. Sie kannte den Mann – es war Sebastian Wilfing, der sich mindestens einmal in der Woche im Hause Wiegant einfand. Agnes hatte jedes Mal versucht, dem Gespräch der Männer zu lauschen, weniger weil dessen Inhalt sie interessiert hätte, sondern weil Sebastian Wilfing eine Stimme hatte, der man gern lauschte: sie pflegte, je aufgeregter der Mann war, desto öfter zu brechen und silbenweise plötzlich in eine Tonhöhe zu schießen, die dem Quieken eines Ferkels bedenklich nahekam. Wann immer das passierte, räusperte sich Sebastian und wiederholte die letzte Silbe mit einer besonders tiefen Stimme, die sich wiederum anhörte wie das Grunzen eineserwachsenen Ebers – ein nie enden wollendes Gaudium für die heimliche Lauscherin, zu dem Wilfings eher ausladende Gestalt ihren Teil beitrug. Wenn Wilfing sich darüber echauffierte, dass die Wiener Kaufleute alle irgendwann einmal Sklaven der »welschen Fakierer« würden, brach seine Stimme besonders häufig. Niklas Wiegants zuverlässige Entgegnung, die Wiener Kaufleute wären selbst schuld daran, dass ihre Zunftkollegen aus Nürnberg, Augsburg, Ungarn oder Italien mittlerweile drei Viertel der Handel treibenden Bürger ausmachten, und dass es an der Zeit wäre, das Geschick selbst in die Hand zu nehmen, sandte Sebastian Wilfings Stimme in halbe Sätze lange Höhenlagen, für die sich selbst ein sehr junges Ferkel geschämt hätte. Ansonsten war Wilfing ein freundlicher Mann, der Agnes »Glückskäfer« nannte und nie vergaß, dabei zu zwinkern. Agnes mochte ihn, doch sie wusste auch, dass Wilfing ihren Aufenthalt in der Gasse verraten würde, und so drehte sie ihm den Rücken zu und bewegte sich nicht, bis der Besucher stampfend und Schnee von den Stiefeln schüttelnd im Haus verschwunden war – zweifellos ein guter Freund und Geschäftspartner, aber dennoch zumindest bei Theresia herzlich unwillkommen in dieser Zeit der Personalvakanz, da der Besuch sie zu einem weiteren Feldzug gegen die Trägheit des Gesindes nötigte. Taktisches Ziel: Sebastian Wilfing in Rekordzeit eine heiße Suppe zu servieren, die dieser gar nicht wollte.
    Ein neuer Blick in die Runde. Es wurde Zeit, dass Agnes ihren Plan ausführte; die Kälte, die über ihren Oberkörper kroch, begann sich mit der Kälte zu treffen, die von ihren Füßen her aufstieg, und Agnes spürte, dass sie bald zu schlottern beginnen würde. Also – frohgemut ans Werk! Süß oder sauer?
    Nach einigen Minuten Wehgeschreis versammelten sich die ersten Menschen um das mit der ganzen Breite seiner Zunge am Abflussrohr festgeklebte Kind. Es folgten die üblichen nutzlosen Fragen.
    »Wie heißt du denn, meine Kleine?«
    »Aaaa-aaa-aaaah!«
    »Ist das dein Elternhaus da?«
    »Aaaa-aaa-aaaah!«
    »Brauchst du Hilfe?«
    »Aaaa-aaa-aaaah!«
    »Tut’s weh?«
    Aus Agnes’ Elternhaus erschien niemand. Ihr Vater, eben erst von seiner letzten Reise zurückgekehrt, hatte sich vermutlich mit Sebastian Wilfing in die hintere Stube des Hauses zurückgezogen, die statt auf die enge, lärmige Kärntner Straße auf den großzügigen Neumarkt

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