Die Teufelsbibel
ungewohnt an. Er hatte sich einen schmalen, wie mit einer Messerklinge gezogenen Oberlippenbart stehen lassen, der in zwei kurzen, gewichsten Spitzen auslief; von der Unterlippe über das Kinn zog sich ein daumendick gestutzter Knebel, der als Krabbenfänger bezeichnet wurdeund der bei den meisten anderen, die ihn trugen, durch nervöses Zupfen unterhalb des Kinns steif und fransig abstand. Pater Xavier, der nicht zu nervösem Zupfen neigte, aber in jeder Hinsicht ein guter Beobachter war, hatte die gleiche Steifheit durch sorgfältige Schmalzbehandlung erzielt. Er wusste, dass nichts unüblicher im Gesicht eines Dominikaners war als diese Barttracht und dass neun von zehn Menschen lediglich sie sehen und im Gedächtnis behalten würden statt des Gesichts. Letztlich hatte er ihn nur für einen einzigen Menschen wachsen lassen – den Mann auf dem Kaiserthron in Prag, dessen Mittler zu Gott Pater Xavier einmal gewesen war. Pater Xavier hoffte, dass er ihn täuschen würde.
Er hatte sich nie gefragt, warum er den Mann fürchtete. Pater Xavier fragte nicht, er analysierte; und da er mit der Analyse nicht zum Schluss gekommen war, hatte er das Problem beiseitegepackt. Vielleicht lag es daran, dass Kaiser Rudolf vor ihm, Pater Xavier, Angst hatte – und ihn deswegen hasste – wie vor keinem anderen Menschen auf der Welt. Womit sollte man so einen Menschen noch einschüchtern? Um wie viel größer konnte die Angst noch werden? Pater Xavier ahnte dumpf, dass, wenn es um seine höchsteigene Person ging, Kaiser Rudolf, der manchmal schreiend vor Kindern und alten Frauen in seine Gemächer floh, ein in die Ecke getriebenes Tier war. Selbst eine Maus kämpft, wenn sie keine andere Wahl mehr hat. Doch dieses Verhalten war Pater Xavier so fremd, dass es sich ihm nicht wirklich erschloss, und so galt wiederum für ihn: Der Mensch fürchtet das am meisten, was ihm am fremdesten ist.
»Ich hoffe, ich komme nicht ungelegen.«
»Aber nein – wie könnten Sie jemals ungelegen sein? Sehen Sie sich um: Ist das nicht ein schönes großes Haus? Wissen Sie, mit welchem Geld das bezahlt worden ist? Dublonen, mein Freund, spanische Dublonen. Kommen Sie, ich möchte Ihnen meine Frau vorstellen.«
Theresia Wiegant hatte ihre Gesichtszüge in Ordnung gebracht und gab die höflich interessierte Gastgeberin. Sie nickte hoheitsvoll, während ihre Augen ihn blitzschnell und hungrig musterten. Pater Xavier lächelte in sich hinein.
»El sol se está levantando«, sagte er und deutete eine Verbeugung an. »Ich habe viel von Ihnen gehört, aber die Worte Ihres Gemahls sind Ihnen nicht gerecht geworden, wie blumig sie auch gewesen sind.«
»Sie sind tatsächlich ein Dominikanermönch?«, fragte Theresia Wiegant. Pater Xavier zuckte nicht einmal angesichts der Unhöflichkeit.
»Mit Leib, Herz und Seele, meine Teuerste«, sagte er.
»Gott im Himmel sei gepriesen. Pater Xavier, seien Sie willkommen in diesem Haus. Ein Gottesmann ist hier so nötig wie Wasser für Steckrüben.« Sie packte seine Hand und küsste sie, und Pater Xavier wusste, wie er den Hunger in ihrem Blick deuten sollte.
»Wien hat sich, wie es scheint, den ketzerischen Ansichten der sogenannten Reformatoren ergeben«, sagte er.
»Dank Ihrer Anwesenheit wird das Haus Wiegant die Scheune sein, in der die Saat des wahren Glaubens gehütet wird.«
»Ich fürchte, ich werde nicht lange bleiben können.«
»Jeder Tag, den Sie hier sind, ist ein warmer Frühlingsregen auf unseren Feldern.«
Niklas Wiegants Blicke flogen zwischen seiner Frau und Pater Xavier hin und her. Pater Xavier erinnerte sich daran, dass der Kaufmann ihm damals erzählt hatte, seine Frau stamme aus dem Haus eines freien, mit dem Anbau von Türkischkorn reich gewordenen Gutsbesitzers. Ein Bauer konnte seinen Geruch loswerden, wenn er sich Mühe gab, aber nicht seine Sprache.
»Wie geht es Ihrem Sohn, mein Freund?«, fragte Pater Xavier. Er lächelte Theresia Wiegant an. »Er erzählte mirdamals, Gott habe Sie mit einem Kind in Ihrem Leib gesegnet. Bestimmt haben Sie diesem einen viele weitere folgen lassen. Oder ist es ein Mädchen geworden, Herr Wiegant?«
Ein Blick in die Gesichter reichte ihm, um die eine Hälfte der Katastrophe zu erkennen, die über den Haushalt seines ehemaligen Geschäftspartners hereingebrochen war. Er setzte ein betroffenes Gesicht auf, doch auf dem Abakus in seinem Herzen begannen die Kugeln hin- und herzuschießen. »Verzeihung, ich ahnte nicht –«
»Es ist gestorben«,
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