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Die Teufelsbibel

Titel: Die Teufelsbibel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Richard Dübell
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war sie noch schlimmer geworden. Er hatte den Unfrieden in ihr Haus getragen und ihn wie einen schlechten Geruch zurückgelassen. Niklas und Theresia Wiegant waren dazu übergegangen, die Mahlzeiten getrennt einzunehmen; das hieß, Niklas und Agnes saßen allein am Tisch, während Theresia scheinbar überhaupt nichts aß und die Stube mied, sobald das Essen aufgetragen wurde. Agnes hatte ihre Mutter einmal dabei überrascht, wie sie kurz vor der Mahlzeit in der Küche hastig etwas hinuntergewürgt hatte; der Anblick hatte sie erschreckt und abgestoßen zugleich und an einen Gassenhund erinnert, der Abfälle verschlingt. Natürlich hatte Theresia aufgesehen und Agnes an der Treppe stehen sehen, und der Blick aus purem Hass, der sie getroffen hatte, hätte Agnes beinahe dazu gebracht, sich zu übergeben. Wenigstens hatte Theresia danach aufgehört, die Legende zu verbreiten, dass sie seit Wochen nichts essen konnte , weil ihre Kehle von der Falschheit und der Verlogenheit unter ihrem Dach zugeschnürt war.
    Die Kirche in Heiligenstadt lag weit von ihrem Elternhaus entfernt; eine gute Stunde Fußmarsch durch die Stadt, beim Neutor hinaus und auf buckliger werdenden Pfaden nach Heiligenstadt selbst, wo manche Häuser endgültig verlassen waren und andere noch immer die dunklen Wundmale der großen Überschwemmungen aus den Jahren gleich nach Agnes’ Geburt trugen, inzwischen überlagert von den Streifen späterer, weniger dramatischer Fluten. Es war nicht immer einfach, einen Stallknecht oder jemand anderen aus dem Gesinde zu finden, der sie und ihre Magd bis dorthin begleitete und geduldig vor dem Kirchenportal wartete, bis Agnes mit ihren vergeblichen Versuchen, im Gebet Seelenfrieden zu finden, zu Ende war. Vor allem musste es jemand sein, der auch noch mit dem wenigen Geld, das Agnes ihm geben konnte, zufrieden war und nicht überall herumerzählte, welche seltsamen Expeditionen die Tochter der Herrschaft unternahm. An das tiefe Misstrauen allen Dienstboten gegenüber, das der Vorfall nach der Gumpendorfer Prozession in ihr geweckt hatte, wollte sie lieber gar nicht denken; die Überwindung, einen der jungen Männer in ihrem Haus anzusprechen, war jedenfalls groß.
    Sie hätte Cyprian um seine Begleitung bitten können; doch sie wollte nicht, dass er mehr von ihrer Zerrissenheit und der Ausweglosigkeit ihrer Gedanken erfuhr, als er ohnehin schon ahnte. Dass sie von allen Gotteshäusern ausgerechnet die Heiligenstädter Kirche aufsuchte anstatt irgendeine andere in der Stadt, geschweige denn ihre Pfarreikirche, hatte ebenfalls mit Cyprian zu tun – und mit dem neugierigen Blick des Pfarrers von Sankt Johannes Baptist, ihrer Pfarrei, der ihr jetzt erst auffiel und der zweifellos damit zu tun hatte, dass ihre Mutter ihm schon vor langer Zeit gebeichtet hatte, was es mit ihrer vermeintlichen Tochter auf sich hatte.
    Sie merkte, dass sich hilflose Wut in ihre Gedanken schlich. Wut auf ihren Vater, der seit dem Besuch von Pater Xaviernicht mehr der Gleiche zu sein schien, Wut auf ihre Mutter, die sie, Agnes, dafür strafte, dass sie existierte, worum Agnes nicht gebeten hatte. Seufzend öffnete sie die Augen, hörte ihr Kleiderrascheln und die leisen Schritte des dünnen jungen Priesters, der in seiner eigenen Kirche weniger zu Hause schien als seine ratlose Besucherin und in all den Malen noch nicht einmal den Mut aufgebracht hatte, die fremde junge Frau anzusprechen und sie nach ihrem Leid zu fragen; der dünne junge Priester besaß Bildung und wusste, dass der Gralskönig durch eine mitleidvolle Frage erlöst worden war, so wie er wusste, dass er nicht den Schneid hatte, Parzival zu sein, noch nicht einmal, was diese unglückliche junge Dame betraf. Als Agnes zum allerersten Mal hier gewesen war, war der Priester ein anderer gewesen; der Boden in der Kirche war noch vom Hochwasser aufgerissen gewesen, und die paar Jahre seit der großen Flutkatastrophe hatten es nicht vermocht, den Geruch nach schalem Wasser, Schlick und faulem Tang zu löschen, der sich in den Putz eingegraben hatte und den sie selbst heute zu ahnen vermochte. Die Tür hinter dem Altar war offen gewesen – eine Einladung, wenn es je eine gegeben hatte …
    Im Alter von zehn Jahren hatte Agnes Wiegant – geborgen in der Liebe ihres Vaters, sicher in der gleichbleibend kühlen Effizienz ihrer Mutter und angeregt durch die Freundschaft mit Cyprian – zum ersten Mal die Geschichte gehört, wie aus einer in heiligem Eifer begangenen Freveltat die

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