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Die Teufelssonate

Die Teufelssonate

Titel: Die Teufelssonate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex van Galen
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zittern, daß er sich einen Moment an die Wand des Concertgebouws lehnen mußte.
    »Notovich, bist du es?«
    »Du hast gesagt, daß ich anrufen kann, wenn ich … falls …«
    »Wo bist du genau?« fragte Nicole in gebieterischem Ton. Sie war es offenbar gewohnt, in Notsituationen zuerst die Fakten ans Licht zu holen: Wo befand sich der Patient, wie viele Tabletten hatte er geschluckt, mit oder ohne Alkohol?
    Notovich beruhigte sie auf der ganzen Linie. Nicole hörte ihm geduldig zu und sagte dann, daß seine Angst ein gutes Zeichen sei.
    »Du willst mehr, als du im Moment verkraftest. Aber daß du etwas willst, ist gut. Verlangen ist Leben. Du wendest dich wieder der Welt zu. Außerdem ist deine Neugier verständlich. Genau wie deine Angst hineinzugehen, übrigens. Jeder Mensch hätte Angst davor. Ich auch.«
    Er war froh, daß er seine Scham überwunden und sie angerufen hatte. Sie verabredeten, daß er am nächsten Morgen zu ihr kommen würde. Er steckte sein Handy wieder in die Tasche und setzte sich auf einen steinernen Sims. Das Telefon war ein Geschenk von Linda gewesen. Sie hatte mit vorausschauendem Blick Nicoles Nummer eingespeichert. Damals hatte er sich nicht vorstellen können, daß er das Ding je brauchen würde. Aber heute war viel passiert.
    Er kam langsam zur Ruhe. Der Wind trieb die Wolken auseinander, und Sterne traten hervor. Er stellte sich vor, wie es drinnen sein würde, in dem Saal, wo das Konzert stattfand. Er sah sich selbst am Flügel sitzen, in die Wärme der Lampen getaucht, alle Blicke auf sich gerichtet, Senna in der ersten Reihe, mit diesem fast erstaunten Lächeln, das sie immer hatte, wenn sie ihm zuhörte.
    Er vernahm Applaus und Bravorufe aus der Ferne. Kam das Geräusch aus dem Gebäude oder aus seiner Erinnerung? Er stand auf, um noch einmal genau zu lauschen, doch es war still geworden. Vielleicht war es der Wind gewesen. Er beschloß, nach Hause zu gehen.
    Das Konzert mußte noch in vollem Gange sein, da kam plötzlich eine Frau in einem hellgrauen Abendkleid heraus. Sie wirkte gehetzt und verstört. Während das Klappern ihrer hohen Absätze auf dem Straßenbelag ertönte, blieb Notovich stehen, als ob er in einem unsichtbaren Netz gefangen wäre. Dieses Gesicht kannte er so gut, daß es keinen Zweifel gab.
    Senna war bereits am Taxistand, ehe er in der Lage war, ihr nachzulaufen. Mit klopfendem Herzen fing er an zu rennen. Er wollte ihren Namen rufen, brachte aber keinen Ton heraus. Er hob noch den Arm, doch das Taxi war schon verschwunden.

6
    D as erste Mal hatte er sie vom Fenster seines Pariser Übungsraums aus gesehen. Raum konnte man es eigentlich nicht nennen; es war eine stickige Bruchbude, in der sein Klavier stand. Brian, der amerikanische Geiger, hatte sie ihm organisiert. Franzosen waren für einen Außenstehenden schwer zu durchschauen, aber wenn man einmal zu einem Netzwerk gehörte, bekam man die absonderlichsten Dinge geregelt – behauptete zumindest Brian.
    Und tatsächlich, eines Tages konnte Notovich sein Klavier in ein leerstehendes Zimmer einer kleinen Werbeagentur stellen. Dort durfte er nachts und an den Wochenenden üben, soviel er wollte. Die Nachbarn störte es nicht, denn in dem ehemaligen Speicherhaus hatten nur hippe Firmen ihren Sitz, die etwas mit Werbung oder neuen Medien zu tun hatten. Die Rückseite blickte auf ein Appartement, in dem Maler und Schriftsteller wohnten. Aber auch diese wurden nicht von dem Geräusch gestört, solange er bei geschlossenen Fenstern spielte. Notovich war es zufrieden; er scherte sich so wenig wie möglich um die Franzosen und sie sich um ihn. Tage vergingen, ohne daß er mit jemandem sprach. Manchmal fühlte er sich wie ein Schatten unter den echten Menschen, als ob sein Körper nur ein Lichtbild wäre, durch das sie auf der Straße hindurchlaufen konnten. Um sich besser zu fühlen, stellte er sich dann vor, es sei umgekehrt: er sei der einzige echte Mensch auf Erden. Diese wimmelnde Masse von Millionen Menschenartigen, die sich redend, arbeitend, essend, streitend, hupend und lachend durch die Stadt bewegte, sei nur eine virtuelle Kulisse, um ihn zu amüsieren.  
    Hinter seinem Übungsraum befand sich zwischen zwei Gebäuden ein kleiner Rasenplatz mit Bänken und ein paar schönen alten Bäumen. Dort sah er sie manchmal mit einem Buch sitzen. Sie sprach nie mit jemandem, sie las nur oder hörte Musik. Anfangs achtete Notovich nicht auf sie. Nicht, daß er in dieser Zeit fanatisch geübt hätte, Auftritte

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