Die Teufelssonate
übrigens Niederländisch sprechen.«
Er sagte es erst jetzt, als habe er nicht gewagt, den Zauber zu brechen.
»Ach, echt? Zweimal Fritten mit , bitte.«
Sie kicherte. Notovich hatte nicht vor, das Gespräch künstlich in Gang zu halten, als würde er etwas von ihr wollen. Aber das war auch nicht nötig. Sie wirkte so vertraut, daß er das Gefühl hatte, sie schon immer zu kennen. War es möglich, daß Seelen von Leben zu Leben wanderten und einander beim ersten Blick erkannten? Früher war ihm dieser Gedanke lächerlich sentimental vorgekommen, doch jetzt fragte er sich, ob sie dasselbe empfand.
»Warum bist du aus den Niederlanden weggegangen?«
»Was weiß ich«, sagte sie. »Ich bin eines Tages einfach in den Zug gestiegen. Bei uns zu Hause lief alles so unter dem Motto: ›Benimm dich normal, dann benimmst du dich schon verrückt genug.‹ Das habe ich nicht mehr ertragen.«
»Ist auch eine bescheuerte Lebensphilosophie«, lächelte er.
Ihr nackter Fuß machte kreisende Bewegungen, ganz entspannt. An der Fessel trug sie ein goldenes Kettchen mit kleinen blauen Perlen. Notovich hatte Mühe, nicht ständig hinzuschauen.
»Was liest du?«
»Byron.«
»Nicht gerade die stabilste Persönlichkeit.«
»Er ist mein Lieblingsdichter, das ist also wirklich eine Sackgasse.«
»Hatte ich schon erwähnt, daß ich ihn für ein Genie halte? Ich habe alle seine Comics.«
Sie lachte.
Man! Thou pendulum between a smile and tear , wollte er zitieren, doch sie war mit den Gedanken bereits woanders. Auf einem Balkon stand ein Mann und beobachtete sie. Er war wohl etwas jünger als Notovich, trug aber ein klassisches blaues Jackett mit einem dunkelgrünen Poloshirt darunter. Eine Farbkombination, auf die Italiener und Franzosen offenbar das Patent haben.
Sie schlug das Buch zu.
»Wer ist das?«
»Niemand. Ich muß gehen.«
»Kann er nicht einen Moment warten?«
Sie wich seinem Blick aus. Sie schien vor irgend etwas Angst zu haben.
»Spielst du das letzte Stück noch mal für mich?« fragte sie schnell.
»Morgen abend, bei offenem Fenster«, versprach er.
Als sie weg war, fiel ihm ein anderer Satz von Byron ein, den er sich in der Schule einmal in sein Aufgabenheft geschrieben hatte.
She walks in beauty, like the night.
Am nächsten Abend spielte er bei offenem Fenster, doch sie kam nicht heraus. Jeden Abend schaute er in den Hof hinunter, und tagsüber ertappte er sich dabei, daß er an sie dachte. Es dauerte drei Wochen, bis er sie wieder mit ihrem Buch unter dem Baum liegen sah. Rasch öffnete er das Fenster, aber sie blickte nicht hoch. Er setzte sich ans Klavier und spielte ein Präludium von Rachmaninow. Er wußte, daß sie es hören mußte, und dadurch bekam die Musik eine besondere Bedeutung für ihn. Es wurde ihr Präludium.
Als er fertig war, lag sie noch immer da und las, als sei nichts geschehen. Nun ja, vielleicht war auch nichts geschehen. Er schlug seine Noten wieder auf und übte weiter. Er konnte sich nicht konzentrieren. Nach einer halben Stunde hörte er draußen Stimmen. Er angelte sich mit der Pinzette noch ein paar Chips aus der Tüte und ging zum Fenster.
Sie sprach mit dem Mann, den Notovich schon einmal gesehen hatte. Sie stritten sich offenbar. Der Mann hielt sie am Arm fest und redete heftig auf sie ein. Notovich hatte das Gefühl, ihre Privatsphäre zu verletzen, schaute aber trotzdem weiter zu.
Plötzlich zeigte der Mann zweimal in die Richtung von Notovichs Fenster. Der trat schnell einen Schritt zurück und verbarg sich, um das Schauspiel weiter verfolgen zu können. Sie riß sich los und machte eine abweisende Geste. Dann lief sie weg. Der Mann rief ihr etwas hinterher, doch sie reagierte nicht. Er fluchte und lief dann ebenfalls weg. Notovich hatte sich an den mitunter hysterischen Ton französischer Streitereien gewöhnt. Aber die Art, wie dieser Mann mit ihr redete, hatte etwas Ungewöhnliches. Sein Ton bekam auf einmal etwas Drohendes.
Das Buch blieb auf der Bank zurück. Notovich nahm sich vor, es mitzunehmen, wenn es am nächsten Tag noch dort liegen würde.
Hatten sie über ihn gesprochen, seinetwegen gestritten? Er konnte es sich kaum vorstellen. Er hatte nur ein wenig mit ihr geplaudert, mehr nicht.
Abermals vergingen ein paar Tage, ehe er sie wiedersah. Es war mitten in der Nacht, und es regnete stark. Davor war es brütend heiß gewesen. Er spielte träge vor sich hin, ohne wirklich bei der Sache zu sein. Als das Gewitter losbrach, machte er das Fenster zur
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