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Die Teufelssonate

Die Teufelssonate

Titel: Die Teufelssonate Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alex van Galen
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Abkühlung weit auf. Kurz darauf hörte er draußen eine Männerstimme.
    Im strömenden Regen stand sie mitten auf dem Rasenplatz. Sie trug nur ein langes T-Shirt. Der Mann auf dem Balkon rief ihren Namen. Notovich zögerte nicht lange und rannte hinaus. Zwei Nachbarinnen versuchten, sie hineinzubringen. Aber was sie auch sagten, sie blieb einfach stehen in ihrem durchweichten T-Shirt und reagierte nicht. Sie schaute wie ein Kind, das den Streit der Eltern nicht hören will. Notovich zog seine Jacke aus und legte sie ihr um. In diesem Moment schien sie kurz zu erwachen; sie sah ihn an.
    »Hast du auch manchmal Heimweh?« fragte sie.
    »Hin und wieder.«
    Sie klammerte sich an ihn. Sie fühlte sich eiskalt an. Notovich versuchte, sie warm zu rubbeln. Da erst fielen ihm ihre Unterarme auf: die tiefen Kratzer, durch die das Blut lief wie durch Rinnen. Als er sie genauer betrachten wollte, kam der Mann eilig heraus. Er schaute Notovich kalt und durchdringend an, tat aber nichts. Die Frauen zogen das Mädchen schließlich von Notovich fort und lotsten es aufgeregt redend hinein. Der Mann warf noch einen letzten Blick auf den jungen Pianisten, mit einer Mischung aus Wut und Scham. Als Notovich seinen Übungsraum wenig später abschloß, sah er das Blaulicht eines Krankenwagens.
    Zuerst dachte er jeden Tag an sie, aber nach einer Weile verblaßte das Bild. Sein Leben nahm seine alte, vorhersagbare Form wieder an: ohne Applaus zu spielen und mit der Pinzette Chips zu essen. Seine Sehnsucht wurde in die Vergangenheit verdrängt.
    Drei Monate später wollte er in der Nähe des Place Vendôme gerade in ein Taxi steigen, als er sie erblickte. Er zweifelte einen Moment, doch dann hielt er sie an. Sie schien ihn nicht zu erkennen.
    »Ich bin der Pianist, weißt du nicht mehr? Der Pianist aus den Niederlanden. Du bist doch das Mädchen, das Byron so liebt?«
    »Oh? Ist das so?«
    »Natürlich. Ich habe noch dein Buch.«
    »Welches Buch?«
    »Von Byron. Das hattest du auf der Bank liegenlassen. Ich kenne inzwischen ein paar von den Gedichten auswendig. Manche sind gar nicht so schlecht. Oder willst du etwa sagen, daß du Byron nicht magst?«
    »Hab' vielleicht mal was von ihm gelesen.«
    Sie log, das sah er daran, wie sie die Augen wegdrehte. Aber er beschloß, nicht zu bohren. Vielleicht schämte sie sich für das, was in jener Nacht geschehen war.
    »Das Buch liegt bei mir zu Hause. Wenn du kurz mitkommst, gebe ich es dir«, sagte er.
    »Dein Taxi ist schon weg.«
    Er zuckte lächelnd mit den Schultern.
    »Dann nicht«, sagte er und wollte weiterlaufen, in der festen Überzeugung, daß er sich nicht verletzt fühlte. Doch seine Beine bewegten sich nicht.
    »Hast du noch manchmal Heimweh?« fragte er.
    »Nicht so oft.«
    Er wußte nicht mehr, was er sagen sollte.
    »Dann zitier doch mal«, meinte sie auf einmal.
 
    When we two parted
    In silence and tears,
    Half broken-hearted,
    To sever for years,
    Pale grew thy cheek and cold,
    Colder thy kiss;
    Truly that hour foretold
    Sorrow to this.
     
    »Das ist so schön«, sagte sie und lächelte vage über eine Erinnerung, von der er für immer ausgeschlossen sein würde. Er hatte plötzlich das Bedürfnis, eine Jacke oder eine Decke um sie zu legen, als ob der Wind sie jeden Moment umwehen könnte. Aber er tat nichts. Sie trug lange Ärmel, so daß ihre Unterarme nicht zu sehen waren.
    »Willst du mich ein Stückchen begleiten?« fragte sie. »Es ist ewig her, daß ich mit jemandem aus den Niederlanden gesprochen habe. Ich vermisse diese alte Krämersprache. Du nicht?«
    »Ab und zu.«
    Und sie liefen stundenlang zusammen durch die Stadt. Erst als sie sich verabschiedeten, kam er auf die Idee zu fragen, wie sie hieß. Sie dachte einen Augenblick nach, bevor sie es sagte, als müsse sie Notovich erst noch prüfen.
    Senna.
    Er hatte das Gefühl der Erregung und der Verheißung, das er an diesem Tag verspürt hatte, völlig vergessen. Es kehrte erst zurück, als er sie aus dem Concertgebouw kommen sah.

7
    F amilienangehörige vermißter Personen klammern sich an jeden Strohhalm, um glauben zu können, daß ihr Kind oder Geliebter noch am Leben ist. Aber Notovich war vom ersten Tag an vom Schlimmsten ausgegangen. Für ihn war sie einfach tot. Was andere sagten – daß keine Waffe gefunden worden sei, kein Abschiedsbrief, keine Leiche –, darauf hatte er nie etwas gegeben. Das lag vor allem an dem Blut, dem verdammten Blut an seinen Händen und auf seinem T-Shirt. Dieses Blut färbte

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