Die Teufelssonate
ein Recht darauf.«
»Senna hatte manchmal düstere Phasen, besonders, wenn sie sich von allen unverstanden fühlte. Was so ziemlich immer der Fall war. Eines Abends sah ich, wie sie sich in ihrem Zimmer mit einer Schere in den Unterarm ritzte. Ich hatte für einen Moment Angst, daß sie Selbstmord begehen wollte, aber sie stand auf und warf mir einfach die Tür vor der Nase zu. Da wurde mir erst klar, warum sie immer lange Ärmel trug. Ich dachte am Anfang, daß es eine neue Mode sei oder so.«
Notovich nickte. Er erinnerte sich an jene Nacht in Paris, im Regen. Das Blut auf ihren Armen. Die Kratzer. Und später hatte er ein paarmal die Narben gesehen.
»Hat sie das öfter gemacht?«
»Das weiß ich nicht. Sie hatte es sehr schwer. Senna hatte einen Freund, und der Junge taugte nichts. Fanden meine Eltern natürlich, aber ich glaube, sie hatten recht. Der letzte Streit mit meinem Vater verlief nicht gerade angenehm. Es wurde mit Möbeln geschmissen, und er hat ihr sogar zwei Ohrfeigen gegeben. Das hat er später sehr bereut, aber das half dann auch nichts mehr. Eine Woche später kam Senna in mein Zimmer und sagte, daß wir eine kleine Spritztour machen würden, sie wollte nur nicht verraten, wohin. Ich hatte überhaupt keine Lust dazu, doch ich sah ihr an, daß ich keine Fragen stellen sollte. Sie nahm die Autoschlüssel meines Vaters von dem Schränkchen im Flur und lief zur Garage. Ich sagte: Du spinnst wohl? Was, wenn Papa gleich nach Hause kommt? Aber der war auf irgendeinem Kongreß, und sie flehte mich an einzusteigen. Das mußt du dir mal vorstellen: Sie konnte überhaupt nicht Auto fahren, doch sie behauptete, daß sie es von einem Freund gelernt habe. Sie startete den Motor, und wir fuhren los. Es ging sogar ziemlich gut, außer daß sie überall bei Rot durchfuhr, weil ihr das Anhalten zu kompliziert war mit der Kupplung und so.
Sie fuhr in irgendein Dorf. Bei einem flachen Gebäude hielt sie an. Ich durfte nicht mit hinein, ich durfte niemanden fragen, was dort geschah, ich mußte im Auto warten. Sie ging rein und blieb zwei Stunden weg. Ich dachte, ich werd verrückt.«
»Was war das für ein Gebäude?«
»Eine Art Gesundheitszentrum.«
»War sie krank?«
»Nicht wirklich.«
»Wie meinst du das?«
»Es war eine Klinik, okay? Eine Abtreibungsklinik.«
Sie stockte.
»Erzähl weiter.«
»Als sie wieder ins Auto stieg, sah sie blaß und elend aus. Ich fing an zu weinen, aber sie sagte, daß ich es niemandem verraten dürfe. Niemandem. Sonst würde sie weggehen und nie mehr zurückkommen. Ich mußte es versprechen.«
»Und dann?«
»An diesem Abend tat mein Vater etwas, was er noch nie getan hatte: Er kam in mein Zimmer und setzte sich auf mein Bett. Dann sagte er ganz sanft, daß ich ihm alles erzählen müsse, er wisse das mit dem Auto. Irgendein Nachbar hatte uns verpfiffen. Und ich … Du hast keine Ahnung, wie mein Vater sein konnte …«
Tränen stiegen ihr in die Augen.
»Du hast es erzählt. Du hattest keine Wahl.«
»Senna sah das nicht so, glaub mir. Zuerst gab es eine große Szene zwischen meinen Eltern, das kannst du dir vorstellen. Meine Mutter war total hysterisch; sie sperrte meinen Vater in sein Arbeitszimmer, weil nun er mal seinen Mund halten sollte. Senna mußte in ihrem Zimmer bleiben, und meine Mutter zog gleich einen befreundeten Psychiater hinzu. Als ob man für so ein Gespräch einen Psychiater braucht. Noch in derselben Nacht ist Senna verschwunden. Ich habe nie mehr mit ihr gesprochen, nie mehr etwas von ihr gehört, nichts. Und als ich erfuhr, daß sie tot ist …«
»Vivien, es war nicht deine Schuld.«
Sie erhob sich vom Bett und ging zum Fenster. Draußen klingelte eine Straßenbahn. Notovich wollte sie trösten, aber da war noch zu vieles, was er nicht verstand. Er ließ sie einen Moment Atem holen.
»Und dann tauchte Valdin auf«, fuhr sie kurz darauf fort. »Er erzählte mir, daß du sie umgebracht hast. Und daß ich nun wiedergutmachen könne, was ich damals verschuldet habe. Er sagte es nicht explizit, aber er suggerierte es.«
»Sagte er auch, wie ich sie umgebracht haben soll?«
»Meine Eltern hatten von der französischen Polizei erfahren, daß sie bereits eine ganze Weile verschwunden war. Wir wußten natürlich von nichts, denn wir hatten keinen Kontakt mehr zu ihr. Meine Eltern halfen noch bei einer Suchaktion mit, aber nach zwei Wochen kamen sie wieder nach Hause. Sennas letzte Jahre sind mir immer ein Rätsel gewesen, daher nahm ich alles,
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