Die Therapeutin - Grebe, C: Therapeutin - Någon sorts frid
unerhört großen Erwartungen, die sie an sich selbst stellt. Charlotte hat eine Todesangst, zu versagen. Bis jetzt haben wir das nur peripher berührt und stattdessen an ihren Heißhungerattacken und dem Erbrechen gearbeitet. Im Unterschied zu Sara Matteus ist Charlotte eine Patientin, die Energie verströmt. Ihre Furcht, inkompetent zu sein und nicht zu genügen, lässt mich selbst tüchtig und fähig erscheinen.
Wir betrachten weiter Charlottes Aufzeichnungen. Juli, August: wenig Angst, kein Erbrechen. Wir finden uns in einem
gemeinsamen Lächeln, und Charlotte bekommt das Lob, das sie so gern haben möchte, sich aber auch verdient hat.
»Da ist noch etwas anderes.«
Charlotte zögert. Sie windet sich auf ihrem Stuhl, und wie immer, wenn sie nervös ist, fängt sie an, mit einem Fuß zu wippen, der heute in Slipper mit Noppen auf der Gummisohle gekleidet ist. Ich ahne, dass dies der Typ von Schuhen ist, den zu kaufen ich mir nie werde leisten können.
»Erzählen Sie!«
»Ich weiß nicht …«
Charlotte sieht plötzlich aus, als berge sie ein Geheimnis in sich. Ein Geheimnis, das sie mir gleich verraten wird. Denn so funktioniert das hier, sie verraten mir alle ihre Geheimnisse in diesem kleinen grünen Zimmer.
»Ich weiß nicht, ob das überhaupt etwas mit der Therapie zu tun hat. Wissen Sie, ich habe über das Leben nachgedacht.«
Charlotte bricht ab, und rote Flecken breiten sich auf ihrem Hals aus, es sieht aus, als hätten kleine Finger fest zugedrückt und dann plötzlich losgelassen. Mir ist klar, dass es viel Mut von ihr erfordert, das anzupacken, was sie jetzt sagen will.
»Ich habe … wie viele Jahre sind es eigentlich schon – mein Gott, fünfundzwanzig vielleicht? -, die habe ich damit verbracht, die ganze Zeit ans Essen zu denken. Und an meinen Körper. Und an meinen Bauch. Und an meine Schenkel. Und damit, zum Sport zu gehen. Wenn ich mich nicht damit beschäftigt habe, dann habe ich gearbeitet. Job. Körper. Essen. Ich bin die jüngste und erfolgreichste Vertriebsleiterin im ganzen Konzern, aber ich habe kein Leben. Kein richtiges Leben. Keine Freunde. Zumindest keine NAHEN Freunde. Keinen Mann. Keine Kinder. Ich war so damit beschäftigt, perfekt zu werden, dass ich vergessen habe, wozu ich eigentlich perfekt
sein will. Ich wollte … geliebt … werden. Ich will geliebt werden. Und jetzt ist es zu spät.«
Charlotte bricht in Tränen aus, die wie kleine Bächlein über ihre glühenden Wangen rinnen. Sie schluchzt und nimmt gleich mehrere Taschentücher aus der Packung. Putzt sich die Nase, wischt sich die Tränen ab, weint. Ich schiebe ihr die Packung über den Tisch hin zu und streichle leicht mit der Hand ihren Arm.
»Charlotte«, ich fange ihren Blick ein, »es ist nicht ungewöhnlich, dass man so empfindet wie Sie, wenn man das durchmacht, was Sie gerade durchmachen … Sie waren gehandicapt, sind von einer schweren Krankheit gebremst worden, und jetzt werden Sie langsam wieder gesund. Damit kommt die Einsicht über all die verlorenen Jahre. Das ist kein Wunder. Das ist gut so. Was ich wissen möchte: Warum sagen Sie, dass es zu spät ist?«
Sie bleibt eine Weile schweigend sitzen und betrachtet die Wand über meinem Kopf, bevor sie mit spröder Stimme antwortet.
»Alt, ich werde alt. Und es scheint, als könnte ich es nicht begreifen, es nicht akzeptieren. Ich laufe irgendwie einfach herum und warte darauf… wieder jung zu werden.«
»Wieder jung zu werden?«
»Nun ja, vielleicht im Frühling?«, sagt sie lächelnd, doch es ist ein schiefes, wehmütiges Lächeln voller Schmerz.
Ich erwidere ihr Lächeln. Das Gefühl wirkt vertraut, als wäre die Zeit ein Kanal, auf dem es möglich ist, in kontrollierten Bahnen in beide Richtungen zu schwimmen, und nicht ein Wasserfall. Sie zuckt leicht mit den Schultern und fixiert mich mit resigniertem Blick.
»Wer will mich denn jetzt noch… ich bin … ich kann ja wahrscheinlich nicht einmal mehr ein Kind kriegen.«
Charlottes Sorgen. Charlottes Angst. Meinen so ähnlich. Kein Kind. Zu spät. Kein Mann. Keine Chance. Nie wieder.
Ich versuche Charlottes Gedanken zu bündeln und daraus etwas Sinnvolles zu machen. Sie dazu zu bringen, sich von außen zu betrachten. Objektiv. Den Wahrheitsgehalt ihrer Behauptungen zu überprüfen. Wir kommen darin überein, dass Charlottes Hausaufgabe darin bestehen soll, genau damit zu arbeiten, und dann sind ihre fünfundvierzig Minuten verstrichen, und Charlotte holt eine Haarbürste heraus, fährt
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