Die Therapeutin - Grebe, C: Therapeutin - Någon sorts frid
Künstler geschmückt ist, hängt eine Magnettafel. Das, was mein Zimmer möglicherweise von den meisten anderen Therapieräumen unterscheidet, ist wohl die häufig genutzte Videokamera, die auf ihrem Stativ thront. Ich nehme die meisten meiner Gespräche auf. Manchmal, damit die Patienten die Sitzung zu Hause rekapitulieren können, manchmal für mich selbst.
Die Bänder sind Aktenmaterial und werden in dem schweren, grün gestrichenen, feuersicheren Archivschrank verwahrt, der sich in der Rezeption befindet. Aina behauptet, meine Bänder seien nur ein weiterer Beweis für mein Kontrollbedürfnis, und beschwert sich, dass der Platz im Aktenschrank immer knapper wird. Ich erwidere, dass das wohl kaum ein Problem für sie darstellen könne, da sie ja doch nie mehr als zwei Zeilen notiert.
So lässt sie mich weitermachen.
Ich musste sie dazu bringen, zu begreifen. So fing es an. Ich musste ihr klarmachen, was sie mir angetan hat. Aber wie sollte ich es erklären? Dass der Schmerz nachts wie tausend Messer in meinem Inneren sticht, Messer, die in Magen und Brust arbeiten. Wie ein wollüstiges Raubtier, das mich langsam von innen heraus auffrisst, ein gewaltiger Parasit mit rasierklingenscharfen Zähnen und kalten, glatten, blitzschnellen Gliedern, aus denen sich zu befreien unmöglich ist.
Würde ich die Leere und die Sehnsucht beschreiben können? Dass jeder Sonnenaufgang verkündete, dass wieder ein sinnloser Tag herannahte. Sinnlose Stunden, erfüllt von ebenso sinnlosen Aktivitäten, in Erwartung von irgendetwas. Und mit jedem Tag wuchs der Abstand. Der Abstand zu ihr.
Würde ich erklären können, dass die Träume so intensiv und wirklich erschienen, dass ich vor Enttäuschung weinte, wenn ich aufwachte, in Schweiß gebadet wie ein Fieberkranker?
Kann man überhaupt jemand anderen dazu bringen, so etwas zu verstehen? Und selbst wenn es mir gelänge, was würde es nützen?
Letztendlich?
Datum: 16. August
Uhrzeit: 13.00 Uhr
Ort: grünes Zimmer, Praxis
Patientin: Charlotte Mimer
»Charlotte, ich dachte, wir fangen am besten damit an, wie Sie den Sommer über klargekommen sind. Schließlich war das eine lange Zeit.«
»Ich denke, der Sommer ist gut gelaufen. Ich möchte Ihnen meine Aufzeichnungen zeigen.«
Charlotte Mimer beugt sich zu ihrer Aktentasche und zieht eine Mappe heraus, in der die Unterlagen sauber geordnet liegen. Ich registriere, dass sie wie üblich alle Aufzeichnungen mit demselben Stift und der gleichen schönen, ordentlichen Handschrift gemacht hat. Charlotte überreicht mir die Mappe, während sie sich gleichzeitig das sorgfältig geschnittene braune Haar hinters Ohr streicht. Ich erkenne, dass sie erwartungsvoll und stolz ist, und ich freue mich für sie.
»Dann lassen Sie uns bei den Eintragungen für den Juni anfangen.«
Die Eintragungen, die Charlotte den Sommer über machen sollte, bestehen in Aufzeichnungen über jede Mahlzeit. Was sie gegessen hat, wie viel, wo sie sich jeweils befunden hat. Nach jeder fertigen Mahlzeit sollten Unbehagen und Angst bewertet werden. Denn eine Person mit einer ernsthaften Essstörung zeigt häufig starke Angst nach den Mahlzeiten, Essen wird mit
Fett verknüpft. Um diese Angst loszuwerden, werden dann Verhaltensmuster benutzt, die sich in jahrelangem Training eingeschlichen haben. Hunger, Erbrechen und übertriebenes sportliches Training. Was wiederum zu neuen Heißhungerattacken führt, ohne dass einem dies bewusst sein mag, denn die Angst ist in diesem Moment so stark und quälend, dass alles andere keine Rolle spielt. Es ist ein Teufelskreis.
Ich nehme Charlottes sorgfältig geführtes Essenstagebuch in die Hand und schaue mir die Liste für den Juni an. Regelmäßige Mahlzeiten, keine größeren Angstattacken nach beendeter Mahlzeit, keine Fressorgien, kein Erbrechen.
»Möchten Sie erzählen?«, frage ich.
»Ich weiß nicht … es hat einfach gut geklappt. Plötzlich war es … ganz einfach.«
Charlotte ist fast vierzig, erfolgreich im Beruf, sie arbeitet als Vertriebsleiterin in einer großen, multinationalen Firma. Fast fünfundzwanzig Jahre lang hat sie in aller Stille mit Essstörungen gekämpft. Erst als ihr Zahnarzt sie mit den Knirschschäden an ihren Zähnen konfrontierte, hat sie Hilfe gesucht. Seit Ende April ist sie in Behandlung und so etwas wie eine Musterpatientin. Genau wie sie eine perfekte Vertriebsleiterin ist, ist sie auch die perfekte Psychotherapiepatientin. Ihr großes Problem sind vielleicht gerade diese
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