Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
er geschossen. Doch der unerwartete Anblick raubte seinem ausgezehrten Körper jegliche Kraft.
Er ließ die Waffe sinken.
Das darf nicht wahr sein, dachte er nur und schloss, völlig außer Atem, die Zimmertür von außen hinter sich.
Das ist unmöglich! Völlig unmöglich!
Etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Und er wusste nicht, was es war. Er wusste nur eins: Das Zimmer, in dem Anna noch vor wenigen Stunden friedlich geschlafen hatte und in das er sie jetzt hatte rennen hören, war leer. Und sie war auch sonst nirgends mehr im Haus zu finden.
Als Viktor eine halbe Stunde später alle Türen und Fenster noch einmal kontrolliert hatte, war seine Müdigkeit verflogen. Der Schüttelfrost und das Fieber hatten den Wirkstoff des Schlafmittels ausgeschwemmt. Und Anna hatte genug getan, dass er nicht wieder einschlafen konnte. Sie hatte ihn überfallen und war dann mitten im Sturm und Gewitter aus dem Haus geflohen. Und zwar nackt! Denn alle ihre Kleidungsstücke und sogar ihr Bademantel lagen noch verstreut auf dem Fußboden im Gästezimmer. Sie hatte nichts mitgenommen.
Während sich Viktor einen starken Kaffee aufbrühte, wechselten sich in seinem Kopf immer wieder dieselben Fragen ab, wie bei einem Staffellauf die Läufer:
Was wollte Anna von ihm?
Hatte er den Überfall doch nur geträumt?
Aber weshalb war sie dann verschwunden?
Wer war sie überhaupt?
Es war morgens halb fünf, als er sich mit zwei Tylenol und einem Aktren stärkte. Und da hatte der Tag für ihn gerade erst begonnen.
37. Kapitel
Parkum, Tag der Wahrheit
S elbst die intelligentesten Menschen legen mitunter sehr skurrile und lächerlich unlogische Verhaltensweisen an den Tag. Nahezu jeder Besitzer einer Fernbedienung hat zum Beispiel die unverbesserliche Angewohnheit, fester auf die Tasten zu drücken, sobald die Batterien schwächer werden. Als ob man die Energie aus dem Akku pressen könnte wie den Saft aus einer Zitrone.
Für Viktor war das menschliche Gehirn wie eine solche Fernbedienung. Sobald die Batterie wegen Erschöpfung, Krankheit oder anderer Gründe die Gehirnströme verlangsamte, nutzte es gar nichts, sich den Kopf zu zermartern. Bestimmte Gedanken waren einfach nicht herauszuquetschen, selbst wenn man sich noch so sehr darum bemühte.
Zu diesem Schluss kam Viktor bezüglich der Ereignisse der letzten Nacht. Die Vorkommnisse waren ihm unerklärlich. Und egal, wie er seinen Kopf auch anstrengte, er fand durch Grübeln und Nachdenken keine befriedigende Erklärung und erst recht keine Ruhe.
Charlotte, Sindbad, Josy, Gift.
Alles stand und fiel mit einer einzigen Frage: Wer war Anna Spiegel? Das musste er herausfinden, bevor es zu spät war. Zuerst spielte er natürlich mit dem Gedanken, die Polizei einzuschalten. Aber was sollte er der erzählen? Sein Hund war tot, er fühlte sich krank, jemand hatte versucht, ihn zu töten, und sein Konto war leer geräumt. Doch es fehlten ihm schlüssige Beweise, die Anna mit irgendetwas davon eindeutig in Verbindung brachten.
Da heute Sonntag war, würde er erst morgen den Kundenbetreuer seiner Bank telefonisch erreichen, um die letzte Buchung rückgängig machen zu lassen. So lange konnte und wollte er nicht warten. Er musste heute handeln, und zwar allein. Zum Glück ging es ihm trotz der nächtlichen Attacke jetzt etwas besser. Doch das beunruhigte ihn nur noch mehr. Es konnte nämlich auch daran liegen, dass er seit gestern keinen Tee mehr getrunken hatte und die Entgiftungstabletten langsam ihre Wirkung zeigten.
Er war im Badezimmer, als ihn wieder ein ungewohntes Geräusch zusammenfahren ließ. Unten. Jemand war an der Tür. Aber es klang anders als die Gummistiefel von Halberstaedt oder die hohen Absätze von Anna. Von einer plötzlichen, fast irrationalen Furcht gepackt, griff er wieder zu der Pistole, die er jetzt ständig bei sich trug, schlich zur Haustür und sah durch den Spion. Wer konnte so früh etwas von ihm wollen?
Nichts.
Viktor stellte sich auf die Zehenspitzen, ging in die Knie – aber egal, aus welchem Winkel er nach draußen sah, er konnte keine Menschenseele erkennen. Als er gerade die schwere Messingklinke der Haustür nach unten drücken wollte, um die Tür einen Spalt zu öffnen, knisterte es an seinem rechten Fuß. Er sah nach unten, bückte sich und hob einen Umschlag auf, der offenbar unter der Tür durchgeschoben worden war.
Es war ein Telegramm. Früher, vor der Erfindung von Fax und E-Mail, hatte Viktor häufiger Informationen auf diesem
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