Die Therapie: Psychothriller (German Edition)
Wege erhalten. Doch heute, da jedermann an jedem Ort über Handy erreicht werden konnte, hatte er diese Form der Kommunikation eigentlich für ausgestorben gehalten. Er selbst befand sich zwar hier auf der Insel außerhalb eines GSM-Netzes und konnte daher über Mobilfunk nicht erreicht werden, aber sein Telefon funktionierte normalerweise, und wichtige Nachrichten waren ihm über das Internet zugänglich. Wer also sollte ihm ein Telegramm hierher schicken?
Viktor steckte die Pistole in die Tasche des Bademantels und öffnete die Tür, um zu sehen, ob der Bote noch in Sichtweite war. Aber außer einer streunenden schwarzen Katze, die völlig durchnässt in Richtung Ortschaft lief, konnte er kein Lebewesen entdecken. Wenn sich jemand vor wenigen Augenblicken noch vor seiner Veranda aufgehalten haben sollte, dann müsste er in Windeseile in das angrenzende Kiefern- und Fichtenwäldchen geflüchtet sein, dessen regenschwere Zweige alles Licht zu verschlucken schienen.
Zitternd verschloss Viktor die Tür wieder, wobei er sich nicht sicher war, ob er vor Kälte, Schreck oder wegen seiner Krankheit bibberte. Er zog den durchgeschwitzten Frotteemantel aus und ließ ihn achtlos auf den Boden fallen. Nachdem er ihn gegen eine dicke Strickjacke eingetauscht hatte, die er sich von der Garderobe nahm, riss er noch im Flur hektisch den weißen Umschlag auf und fingerte das Blatt mit der Nachricht heraus. Sie bestand nur aus einem einzigen Satz. Erst nachdem er ihn zum dritten Mal gelesen hatte, war er in sein Bewusstsein gedrungen – und verschlug ihm den Atem.
DU SOLLTEST DICH SCHÄMEN!
stand in Großbuchstaben in einer Zwölf-Punkt-Schrift auf dem einfachen Papier des Postamtes. Und dann der Absender. Er musste sich setzen. Die Buchstaben verschwammen vor seinen Augen. Der Absender: Isabell.
Was um Himmels willen sollte das bedeuten? Egal, wie Viktor das Blatt drehte und wendete, es machte keinen Sinn. Warum sollte er sich schämen? Wofür? Was hatte seine Frau, die sich doch gerade in Manhattan aufhielt, über ihn herausgefunden? Und warum hatte sie ihn nicht angerufen, sondern ein Telegramm geschickt? Was hatte seine Frau so verärgert, dass sie einer direkten Unterredung mit ihm auswich? Gerade jetzt, wo er sie so dringend brauchte?
Viktor beschloss, es noch einmal in New York zu probieren. Er ging zum Telefon, doch als er den Hörer abhob, passierte wie gestern wieder nichts. Die Leitung, die er unbedingt benötigte, um Isabell zu erreichen, war noch immer tot.
Was hat die Telefongesellschaft seit gestern gemacht? Karten gespielt?, dachte Viktor verärgert. Er vermutete, dass der Orkan die Telefonmasten der Insel oder die Unterwasserleitungen im Meer gekappt hatte. Doch dann erkannte er eine viel einfachere Ursache. Zuerst war er erleichtert und wollte das Problem beheben. Doch dann erfasste ihn ein grauenhaftes, entsetzliches Gefühl: Das Telefon hatte bis zum Anruf von Kai vorgestern noch funktioniert. Danach hatte es nicht mehr geklingelt. Und der Grund lag auf der Hand: Irgendjemand hatte den Stecker aus der Wand gezogen.
38. Kapitel
A ls Isabell wieder nicht erreichbar war, beschloss er zu handeln. Er konnte nicht allein im Haus sitzen bleiben und untätig vor dem Telefon darauf warten, dass sich seine Frau, Kai oder Anna bei ihm meldeten. Er musste endlich mit dem Reagieren aufhören und mit dem Agieren beginnen.
Es dauerte mehrere Minuten, bis er das oberste Fach der Kommode im Flur herausgezogen hatte. Hier fand er das rote, zerfledderte Notizbüchlein, in dem sein Vater vor Jahren alle wichtigen Telefonnummern der Insel handschriftlich vermerkt hatte. Zuerst blätterte er unter »A«, fand dann aber die entscheidende Nummer unter »G« wie Gasthof. Er ließ es genau dreiundzwanzigmal klingeln, bevor er resigniert wieder auflegte.
Was haben das »Mariott Marquise« am Times Square und der »Ankerhof« gemeinsam?, fragte er sich ironisch.
Viktor versuchte es erneut, in der Hoffnung, sich beim ersten Mal verwählt zu haben, und blieb so lange dran, bis das Tuten von allein in einen Besetztton überging.
Keiner da.
Er sah aus dem Fenster und hatte Mühe, hinter der dichten Regenwand die schwarzen Brecher zu erkennen, die sich in unendlicher Folge ihren Weg vom offenen Meer zum Strand bahnten.
Mit nervösen Fingern blätterte er in dem abgegriffenen Notizbüchlein und fand den Buchstaben »H«.
Diesmal hatte er mehr Glück. Im Gegensatz zu Isabell und Trudi nahm Halberstaedt das Gespräch
Weitere Kostenlose Bücher