Die Tibeterin
den Schatten. Inzwischen sattelte Atan die Pferde ab, befreite sie von dem Gepäck. Er führte sie an den Bach und ließ sie etwas trinken, doch nicht zuviel. Dann löste er eine 211
Handvoll Bergkresse vom Grund des Baches und rieb damit ihre klebrigen Flanken ein. Bei den Reitervölkern kommen stets die Pferde an erster Stelle. Das verlangt ein uraltes Gesetz, denn die Menschen sind ja auf ihre Pferde angewiesen. Sie sorgen für die Tiere wie für sich selbst, vielleicht sogar noch besser. Ich sah aufmerksam zu; schon morgen würde es meine Aufgabe sein, Atan dabei zu helfen. Das kühle Wasser beruhigte die Pferde, und bald darauf führte Atan die Tiere auf einen Grasstreifen neben dem Bach.
Er beobachtete die Pferde genau; als er sah, wie sie zu fressen begannen, nickte er mir zu.
»Sie werden sich schnell erholen.«
Wir ließen das kristallklare Wasser über Gesicht und Arme laufen, wuschen auch den Oberkörper. Doch es war gefährlich, das Gletscherwasser zu trinken. Alle Einheimischen kochten das Wasser ab. Touristen, die diese Vorsicht nicht einhielten, erlebten oft tagelang, wie es in ihren Mägen und Därmen rumorte. Atan wanderte suchend den Bach entlang und kam mit ein paar trockenen Zweigen zurück. Er entfachte ein kleines Feuer zwischen drei Steinen. Dabei erklärte er mir, daß Brennholz stets vorhanden war. Man mußte es nur gut aussuchen.
»Dieses Holz brennt mit heißen, fast rauchlosen Flammen.
Vorsicht ist besser, nicht wahr?«
»Ist die tibetische Grenze noch weit?«
»Morgen werden wir sie überschreiten.«
Er deutete auf die schattigen Hänge gegenüber.
»Die chinesischen Grenzposten sind in Steinhütten am Berghang untergebracht. Die Wächter haben Feldstecher, aber keine Infrarot-Detektoren. Die Amerikaner sind da besser ausgerüstet. Zwischen den Felsen sind die Wege meistens sicher. An offenen Stellen nicht immer. Ein Schatten am Boden kann gesehen werden. In solchen Augenblicken ist Geduld eine Tugend. Wer sich Zeit läßt und wartet, bis die Sonne senkrecht steht, kann leicht hinüberkommen.«
Das alles waren keine einzelnen Überlegungen mehr bei ihm. Sein Erfahrungsschatz hatte sich durch ein langes Leben in den Bergen in ihm gebildet.
Aber die Chinesen waren nicht die einzige Gefahr. Im Grenzgebiet hatte die Habgier das zeitlose Recht auf Gastfreundschaft verdrängt.
Oft kam es vor, daß Flüchtlinge ausgeraubt oder ermordet wurden.
»Nicht nur die Natur ist krank, der Mensch auch.« Atan verzog unfroh die Lippen. »Wenn er anfängt, seine eigene Ehre zu 212
mißachten, ist er nicht gerade auf dem besten Weg.«
Das Wasser kochte; Atan öffnete ein Päckchen Ziegeltee, warf die Blätter in die Kanne und schüttelte sie im abgekochten Wasser. In einer kleinen Holzschale mischte er den Tee mit Tsampa-Mehl.
Geschickt drehte er die Holzschale in der linken Hand, während er mit den Fingern der Rechten den Teig umrührte. Er streute Salz hinzu, bis er zähflüssig wurde, und gab mir den Tee zu trinken. Er schmeckte nicht gut. Ich schnitt eine Grimasse. Atan nickte mir zu.
»Trink! Der Körper braucht viel Salz in dieser Höhe.« Die Trekker waren mit ganzen Küchenbrigaden unterwegs, die dreimal am Tag eine vollständige Mahlzeit kochten. Atan hatte für solchen Luxus nur ein Achselzucken übrig. Er wußte, wie man den Saft gewisser Gräser einsaugte, wo bestimmte Pilze, Nüsse und Beeren zu finden waren, oder wie man mit der Steinschleuder kleine Tiere erlegen konnte. Er hatte trockenes Yakfleisch bei sich, mit Salz und rotem Pfeffer gewürzt. Das Trockenfleisch, mit Tee und Tsampa-Mehl vermischt, führt dem Körper alle notwendigen Vitamine zu. Während er sprach, wuchs mein Staunen. Ich reiste mit einem Mann, den ich mir in meinem früheren Leben nie hätte vorstellen können. Er war ein Jäger und Fährtensucher wie seine Ahnen. Die Kraft, die ihn antrieb, war jene Kraft, mit der sich die Eiszeitjäger einst gegen Mammuts behauptet hatten. Seine Sicherheit und Ausgewogenheit verdankte er der ihn umgebenden Natur; er hing von ihr ab, wie ein Blatt von einem Zweig. Berge und Hochsteppen vermochten jederzeit jedes Wesen aus Fleisch und Blut zu vernichten, wenn diesem die Kräfte versagten. Die im Westen verbrachten Jahre hatten Atan auch die
»andere Seite« gezeigt. Wenn Atan auch gleichsam wie aus Versehen in unser gefährlich technokratisches zwanzigstes Jahrhundert geraten war, so war er auch schlau genug gewesen, seine Errungenschaften zu nutzen. Er beugte sich den
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