Die Tibeterin
sie hart zu mir sprach:
»Laß deinem Unwillen nie an dem Pferd aus. Der Reiter ist schuld, wenn er nicht im Sattel bleibt. Er hat seinem Pferd nicht genügend vertraut!«
Sie stieß einen besonderen Ruf aus. Sofort sprengte ihr das Pferd in raschem Galopp entgegen. Es gab kein Reittier, das Shelo nicht gehorchte. Khampa-Frauen lernen früh, die Pferde zu rufen. Darum wird auch unser Land >das Land der Rufe< genannt. Shelo gab mir einen Klumpen Salz; sie hob mich in ihre Arme, und ich hielt dem Pferd das Salz entgegen. Seine Zähne waren groß wie Elfenbeinplatten, doch seine Lippen, als es das Salz von meiner flachen Hand leckte, fühlten sich weich an. Das Tier hatte seine Ehre gerächt. Jetzt war sein Zorn verraucht; es vergab mir meine schlechten Manieren. Shelo setzte mich wieder in den Sattel. Meine Tränen waren getrocknet, aber ich hatte ein schlechtes Gewissen und fürchtete mich. Das Tier spürte meinen Argwohn, trabte behutsam und freundschaftlich mit mir davon. An diesem Tag lernte ich meine Lektion: Es gibt kein edleres Geschöpf auf der Welt als ein Pferd.«
Über den Bergen war der Himmel gelb; nur ein Gletscher leuchtete glutrot, während das Gebirge ihm gegenüber im Schatten versank.
Eisige Kälte stieg aus dem Boden. Ich verschränkte fröstelnd die Arme. Atan sprach weiter. Er hatte seinen Wolfspelz um die Hüften gewickelt. Er trug nur eine Tschuba aus Rohseide und schien den Wind kaum zu spüren.
»Unsere Pferde vereinen in sich die gegensätzlichsten Fähigkeiten: Ungestüm und Geduld, Geschwindigkeit und Ausdauer. Sie sind klug wie Jagdhunde und tapfer wie Leoparden. Wir reiten unsere Tiere niemals mit Sporen, das würden sie nicht dulden. Sie spüren die Gedanken des Reiters. Ein Wink von Knie oder Zügel, und sie 207
wechseln vom wilden Galopp zum Stand über, von Flucht zur Verfolgung, vom listigen Aufbruch zum offenen Angriff. Keine Spur, keine Fährte ist ihnen zu steil. Sie stolpern nie. Es ist, als ob sie mit den Hufen sähen. Und wenn die Zeit der großen Reiterfeste naht, beginnt für sie ein hartes Training. Nach jedem Ausritt wird das erhitzte Pferd mit eiskaltem Wasser übergossen, dann in warme Decken gehüllt und getrocknet. Seine Hufe stehen weich auf einer Mischung aus trockenem Mist und Sand, die jeden Morgen gewechselt wird. Das Tier darf sich nicht hinlegen; ein Halfter sorgt dafür, daß es seinen Kopf nicht senken kann, damit es nicht zuviel frißt und sich aufbläht. Wir sagen, das Pferd >muß seinen Hochmut entwickeln<. Während dieser Zeit bekommen die Tiere nur ein ganz besonderes Futter: Gerste und Hafer, mit rohen Eiern und Butter vermischt. Dadurch werden sie besonders kräftig. Solche Pferde galoppieren nicht… nein, sie fliegen. Wir schmücken sie mit kostbaren Satteldecken, mit Zaumzeug aus purem Silber. Und jedes Jahr war es Shelo, die die besten Pferde trainierte und die begehrtesten Preise gewann. Sie trug Männerkleidung aus buntschillerndem Brokat, steckte ihre Zöpfe unter den breitkrämpigen Hut der Nomaden, um sich auf ihrem Lieblingspferd an dem Rennen zu beteiligen. Dies brachte ihr große Bewunderung ein. Denn es braucht äußerste Kräfte und eine eisenharte Hand, um die pfeilschnellen Reittiere zu führen. Nicht jedesmal gewann sie das Rennen, aber es kam nie vor, daß sie nicht unter den Besten war…«
Atan verstummte. Nebel stieg aus dem Hochtal. Noch war die Mondsichel hinter den Gipfeln verborgen, doch ihr Widerschein ließ auf den Gletschern ein silberweißes Flimmern spielen. In den Häusern flackerten die Feuer aus Yakdung, mit ihrem herben, aromatischen Geruch. Die Pferde neben uns standen still. Die Wärme ihrer großen Körper strahlten zu uns herüber. Atan hatte beide Hände in Ilhas Mähne vergraben. Nach einer Weile sagte er dumpf:
»Das alles ist lange her. Ilha hat diese Zeiten nicht gekannt. Was soll’s? Sein Blut weiß darum…«
Er sah erneut an mir vorbei. Ich fragte: »Hast du noch im Kopf, wie es war?«
Seine Augen kehrten zu mir zurück. Ein Seufzer hob seine Brust.
»Bis in meine Träume hinein. Doch die Menschen müssen zerstören, wenn sie weiterkommen wollen. Sie erhalten das Leben auf Kosten der Toten, das liegt in ihrer Natur. Zu den Pferden aber sprechen die 208
Götter. Sie sind dem natürlichen Guten zugewandt und begehen niemals Verrat. Sie sind weiser als wir.«
209
24. Kapitel
D ie Gipfel waren nur in den ersten Morgenstunden sichtbar; sobald die Sonne stieg, verhüllte sie der Dunst wie ein
Weitere Kostenlose Bücher