Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
Traumbild.
    Wir ritten auf schmalen Pfaden bergan. Die Hügel erhoben sich stufenweise, mit ihren schachbrettförmigen Feldern, betupft vom Dunkel der Baumgruppen und den glitzernden Adern der Bewässerungskanäle. Bauern waren bei der Kartoffelernte. Der Wind wehte gleichmäßig, die Rauchfäden ihrer kleinen Feuer stiegen friedlich in die kalte Luft. Wir sprachen nur wenig. Eine Zeitlang waren das Schleifen der Hufe, die Atemzüge der Pferde die einzigen Geräusche in der Morgenstille. Seit zwei Stunden saß ich nun im Sattel und fand es nicht allzu schlimm. Ich hatte meine Füße in die Steigbügel gebracht. Der Wallach war ein geduldiges Tier, das weder mit dem Kopf schlug noch unaufgefordert trabte. Sein Schritt war gleichmäßig. So ritten wir über die mit Kiefern bewachsenen Hänge. Der gewundene Pfad blieb deutlich erkennbar, nicht breit ausgetreten, aber auch nie überwachsen; Pferdeäpfel und die Spuren von Hufen waren oft zu sehen. Die Gebirgsluft war frisch und würzig. Als wir durch einen Tannenwald ritten und die Hufe unserer Tiere weich über den nadelgepolsterten Boden stapften, brach Atan plötzlich das Schweigen.
    »Als ich Kind war, gab es mächtige Wälder in Tibet; die Sagen der Vorfahren erzählten, daß sie seit jeher dagewesen waren. Im Zeitraum von dreißig Jahren haben die Chinesen sechzig Millionen Bäume gefällt, unser Land in eine Wüste verwandelt. Es gibt eine Redensart: Mit den Schätzen, die sie aus unseren Klöstern raubten, haben sie eine goldene Brücke nach Beijin gebaut. Mit dem Raub unserer Wälder fügten sie noch eine hölzerne hinzu.«
    Er sprach leichthin, aber ich hörte seine Erbitterung.
    »Die wenigen Bäume, die wir in Tibet erhalten konnten, schützen wir mit kleinen Mauern vor weidenden Tieren. Aber das Regenwasser schwemmt die Steinmauern weg, trägt den Humus unter den Bäumen fort. Wenn es wieder trocken ist, sterben die Wurzeln ab. Sind die Winter kalt, werden sie zu Brennholz zerschlagen.«
    Die Sonne schien zwischen den Bäumen und fiel auf sein Gesicht.
    Seine ledergegerbte Haut trug die Spuren der Leiden vieler Jahre; er hatte zuviel gesehen, zuviel erlebt. Mein Herz wurde schwer. Er war 210
    ein Mann mit dem Lächeln eines Knabens, dessen Antlitz schon die Falten zeigt, die er im Alter tragen wird. Und doch pulsierte in ihm eine tiefe, unzerstörbare Freude am Leben.
    Der Tag wurde still und heiß. Wir hatten nur kurz gerastet. Weil die Höhenluft dünn war, brannte die Hitze auf unsere schwitzende Haut. Der Himmel ruhte gleißend und klar auf den unbeweglichen Wellen der Berge. Wolken trieben wie Baumwollflocken dahin, zeichneten Schatteninseln auf den Steilhängen. Nach einigen Stunden ritten wir aus den Wäldern in ein braungelbes Hochland des Schweigens, wo die einzige Bewegung das träge Dahinschwingen der Adler war. Hier schweifte der Blick in immer fernere Weiten; ein Zauberschein lag über der Landschaft, und ich spürte diese Verzauberung, obwohl ich allmählich müde wurde. Schob ich von Zeit zu Zeit die Füße aus den Steigbügeln, um die Beine zu strecken, merkte ich, wie alle Muskeln schmerzten. Die Zeit verging; ich zitterte, meine Beine wurden schwer wie Blei. Bald fühlte ich nur einen einzigen Wunsch: mich auszuruhen, mich hinzulegen… zu trinken! Doch je heftiger und sehnsüchtiger dieses Bedürfnis in mir wurde, desto schonungsloser bemühte ich mich, es zu vergessen.
    Nein, ich würde nicht nachgeben!
    Der Boden schien völlig trocken, als ein leichtes Plätschern die Stille brach. Eine Quelle strömte murmelnd zwischen Farnkräutern und Bergblumen dahin. Im selben Augenblick stand Ilha; ich hatte nicht gesehen, daß Atan ihm irgendein Signal gegeben hatte. Nun wandte er mir das Gesicht zu; ich sah die Fältchen in seinen Augenwinkeln, das schneeweiße Aufblitzen der Zähne hinter den harten Lippen.
    »Wir rasten hier. Warte, ich halte dich!«
    Er sprang mit geschmeidiger Bewegung aus dem Sattel, näherte sich dem Dunkelbraunen und streckte mir die Arme entgegen. Ich stützte beide Hände auf seine Schultern, schwang mit Mühe mein Bein herum; er hob mich aus dem Sattel. Als ich den Boden berührte, knickte ich ein. Ich lachte und erstickte gleichzeitig ein Stöhnen, während ich ein paar humpelnde Schritte machte. Atan hielt mich fest. Das Lächeln stand immer noch in seinen Augen.
    »Es war ein harter Tag, aber du hast dich gut gehalten. Wir werden hier rasten. Morgen wirst du Schmerzen haben, aber dann nie mehr.«
    Ich setzte mich in

Weitere Kostenlose Bücher