Die Tibeterin
lächelte sie an. Djigme sprang aus dem Sattel, schloß seine Tochter in die Arme. Shelo erzählte, die Wölfin habe sie zu dieser Höhle geführt. Sie hatte sich von den Körnern ernährt, die sie dort vorfand. In der Nacht sei die Wölfin zu ihr gekrochen, um sie zu wärmen. Während sie sprach, stellte Djigme an seinem Kind eine Veränderung fest. Zuerst konnte er nicht sagen, was es war. Doch als er Shelo auf sein Pferd hob, sah er Blutflecken auf ihrem Kleid: Sie war in diesen Nächten zur Frau geworden. Und weiter erzählte Shelo, daß verschiedene Tiere zu ihr gekommen seien. Ein Blaufuchs sei dagewesen, und auch ein Zobel, ein Adler und eine Schlange. Und – wie erstaunlich – sie habe die Sprache dieser Tiere verstanden! Später, im Lager, kamen Shelos Eltern zu dem Schluß, daß wohl ihre erste Blutung zusammen mit der Kälte und der Erschöpfung Fieberträume bei ihr ausgelöst hatte. Was auch immer in diesen zwei Nächten geschehen war, Shelos Verwandlung blieb niemandem verborgen. Sie hatte auf einmal mehr als eine Stimme: sie sprach wie eine Frau, dann wie ein Kind, dann wieder wie ein erwachsener Mann. Und manchmal kamen Laute aus ihrem Mund, die wie Tierstimmen klangen. Von nun an behandelten sie alle Leute mit großer Verehrung. Man wußte, daß die Geister Shelo entführt hatten, um ihr ein Geheimwissen anzuvertrauen. Sie war jetzt eine Schamanin, eine heilige Frau. Die Tiere, die sie in der Höhle besucht 217
hatten, standen ihr als persönliche Schutz- und Hilfsgeister zur Seite.
Alle Geister lieben das Schöne, und so begann Shelo, sie durch ihren Gesang zu erfreuen. Auf diese Weise erbat sie Schutz und Hilfe für den Stamm, damit er unbeschadet die kalte Jahreszeit überstehen und in seinen Traditionen weiterleben konnte. Zu ihren Aufgaben gehörten auch die Sicherung des Jagdglücks und die Pflege der Herden. Die Lieder, die sie vortrug, werden bei uns >das Pferd der Melodie< (dbyangs-rita) genannt. Das Wort >musizieren> heißt im übertragenen Sinn >sich auf das Pferd schwingen<. Und alle, die Shelos Gesang lauschten, entsannen sich nicht, jemals derartiges gehört zu haben. Wo mochte das junge Mädchen diese Lieder gehört haben? Die Lieder unserer heimatlichen Steppen, vom Norden bis zum Süden? Welch unglaublich feines Gehör mußte das Mädchen besitzen, daß es all diese vielleicht nur einmal gespielten oder gesungenen Melodien behielt! Und ihre Eltern erinnerten sich an ihre seltsame Angewohnheit, bei den Darbietungen der Wandermusikanten in Schlaf zu fallen. Träumend hatte sie jedes Wort der uralten Lieder und Balladen in ihrem Gedächtnis bewahrt.
Aber sie erfand auch neue Gesänge, und diese waren die schönsten.
Heute weiß ich, daß sie im höchsten Maße das war, was wir in unserer alten Sprache eine Gter-bton eine >Erfinderin der Schätze< nennen, eine Frau nämlich, die aus Visionen Gesänge schuf… «
Atan schwieg so plötzlich, daß ich das Gefühl einer unerträglichen Leere empfand. Sein Gesicht war wie vom Schmerz verdüstert. Ich blickte ihn an, voller Kummer und Wehmut. Er hatte eine fremde Welt für mich heraufbeschworen, eine Welt voller Zeichen und Wunder. Er hatte noch Zugang zu dieser verwunschenen Welt, die mir fern und unerreichbar bleiben würde. Ich sagte bitter:
»Ich bin ein halbes Jahrhundert zu spät geboren.«
Er nickte.
»So ist es. Man zerstört die Geschichte eines Volkes und nennt das Integration.«
Ich lehnte meine Stirn in die Beuge zwischen seiner Schulter und dem Hals.
»Ich denke oft an Träume, die ich früher hatte. Sie reichen in mehr oder weniger weit zurückliegende Jahre zurück. Was bedeutet das, wenn man von der Vergangenheit träumt? Sie soll nicht allzu wichtig für mich werden.«
Er schüttelte den Kopf.
»Wir brauchen solche Träume. Sie vermitteln uns in 218
verschlüsselter Form, wer wir waren, woher wir kommen und was uns vorausbestimmt ist.«
»Ich habe Durst«, seufzte ich.
Atan ergriff den kleinen Kessel, füllte Tee in die Holzschale und reichte sie mir. Wir tranken abwechselnd. Atan fuhr fort.
»Ich weiß noch, wie Shelo sagte: >Bin ich es, die die Laute spielt?
Oder ist es die Laute, die meine Hand führt? Bin ich es, die eine Melodie ersinnt? Oder ist es die Melodie, die aus mir entsteht? Alle Dinge sind eins und entspringen der gleichen Lebenskräfte«
Ich sagte:
»Wer viel Kraft hat, kann einen Teil davon entbehren. Chodonla soll sie haben. Sie braucht das jetzt. Daß es nicht leicht sein wird, ist klar.
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