Die Tibeterin
meinen fragenden Blick. »Es stammt von meinem Vater. Er hatte es mir vermacht, bevor er nach Lhasa ging.«
»Was bedeuten diese Schriftzeichen?«
»Sie gehören einer alten Geheimsprache an – der Dakini- Sprache.
Man nennt sie auch die >Sprache des Zwielichtes<. Dieses Amulett vereint einige frühere Bezeichnungen. Das >Blaue< (a-sngon) für den Himmel, das Viereck (gru-bzhi) für die Erde. Dazwischen steht das Symbol für das sechsfache Lächeln<, das gleichzeitig den Krieger bezeichnet. Den Sinn dieser Ausdrücke weiß heute kaum noch jemand. Auch ich habe vieles vergessen. Aber ich habe noch erlebt, wie meine Mutter die Trommel ritt.«
Ich runzelte die Brauen.
»Was bedeutet das, Atan?«
Er lächelte, wenn auch nur flüchtig, ganz seinen Erinnerungen hingegeben.
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»Das bedeutet, daß sie eine Schamanin war. Es gibt Schamanen, die ihr Gewerbe als Beruf ausüben, und von den Menschen gefürchtet und geehrt werden wie Heilige. Meine Mutter war beides: Klanführerin und Schamanin. Es heißt, daß solche Menschen von Dämonen entführt werden, die ihnen ihr Handwerk beibringen. Diese Dämonen sind nicht bösartig, sie sind Hüter des Wissens. Schon frühzeitig zeichnete sich Shelo durch außergewöhnlichen Mut aus.
Sie ritt die größten und schnellsten Pferde, in einem Alter, da sie sich noch auf die Fußspitzen stellen mußte, um ihnen Salz zu geben. Sie liebte alle Tiere. Selbst die Schlangen und die Skorpione sah sie als Freunde an. Im übrigen war sie liebenswürdig zu jedermann, von großer Einfachheit und Güte. Doch als Kind hatte sie eine Eigenart, die sich immer dann zeigte, wenn Sänger und Tänzer das Lager besuchten. Diese Wanderschauspieler wurden jedesmal mit großer Freude empfangen. Sie zogen durch das Land unter dem Schutz des heiligen Milarepas. Sie tanzten zum Klang der Trommel, ließen Schellen rasseln und die Laute erklingen. Shelo freute sich immer auf ihren Besuch. Und jedesmal geschah das gleiche: Kaum sangen die Musiker die ersten Strophen, da fielen dem kleinen Mädchen die Augen zu. Sie sank in tiefen Schlaf, was in den Jurten viel Gelächter auslöste.
>Was bist du doch für ein seltsames Kind<, neckte sie Uma, ihre Mutter. >Zuerst brennst du darauf, die Musiker zu hören. Doch sobald sie vorsingen, schläfst du vor Langeweile ein.< Shelo wurde immer sehr verlegen dabei; ihre lustige, schlagfertige Art ließ sie im Stich. Sie versprach, in Zukunft wach zu bleiben, doch jedesmal geschah das Gleiche. Eines Tages, als Shelo zwölf Jahre alt war, erblickte sie unweit ihrer Jurte eine Wölfin. Obwohl diese Tiere für gewöhnlich die Menschen meiden, ließ sich das Tier von dem kleinen Mädchen streicheln. Shelo hatte Spaß an der Wölfin. Ganz in ihr Spiel vertieft, merkte sie nicht, wie sie sich immer weiter vom Lager entfernte. Als es Nacht wurde, und sie nicht in die Jurte kam, machten sich die Eltern Sorgen.
>Es ist dunkel gewordene sagte Uma und beobachtete unruhig den Himmel. >Shelo hat eine Wölfin gefunden und spricht mit ihr, als ob sie ein Mensch wäre.<
Djigme, der Vater, ließ in seinem Hirn alle Möglichkeiten vorbeiziehen, die ihre Worte wachgerufen hatten. Dann sagte er:
>Ich will sie suchen gehen.<
Er sattelte sein Pferd und machte sich mit ein paar Nachbarn auf 216
den Weg. Es war Herbst, und in der Nacht sank die Temperatur unter den Gefrierpunkt. Bald entdeckten sie die Spuren der Wölfin, und daneben Shelos kleinen Fußabdruck. Die Spuren führten den Fluß entlang, in Richtung der Berge. Immer tiefer hingen die Wolken herab, es wurde mit jedem Augenblick dunkler. Djigme flehte die Götter an, sein Kind zu beschützen. Die Wölfin mochte die Kleine getötet haben, und sie würden nur ihre halbverzehrten Reste finden.
In der Nacht fiel der erste Schnee und verwehte die Spuren. Doch die Männer gaben ihre Suche nicht auf und verbrachten zwei Nächte im Gebirge. Am morgen des dritten Tages sah Djigme über der höchsten Granitwand einen Adler schweben. Sieht der Adler nichts unter sich, fliegt er mit ruhigem Flügelschlag. Bei der Jagd fliegt er hin und her, wie ein spurensuchender Hund. Hat er Beute gesichtet, sieht er in immer engeren Kreisen tiefer und tiefer hinab. Doch wenn er Menschen entdeckt, schwebt er sehr hoch und bewegt sich nicht.
Da wußten die Männer, daß der Adler etwas gesehen hatte. Sie ritten einen Kamm entlang und entdeckten eine Höhle. Dort, im Licht der aufgehenden Sonne, saß das Mädchen ganz ruhig unter einem Felsen und
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