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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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niemals einen Schritt zur Seite.«
    Langsam und vorsichtig setzten wir uns in Bewegung. Atan ging voraus, wobei er sich mit der freien Hand an der Felswand entlang tastete. Selbst bei Tageslicht wäre der Abstieg kein Spaziergang gewesen. Und Atan wußte zu gut Bescheid, als daß er sich – so dunkel es auch sein mochte – hoch zu Pferd an der Horizontlinie gezeigt hätte. Während ich schlief, hatte er die Hufe der Pferde mit Stoff umwickelt. Das dämpfte ihren Schritt und verhinderte gleichzeitig, daß sie uns allzu schmerzhaft in die Fersen traten.
    Stellenweise kam mir der Pfad wie eine Leiter vor. Manchmal löste sich ein kleiner Stein unter den Pferdehufen, fiel hinunter. Dabei hatte ich das Gefühl, daß wir entsetzlich viel Lärm machten. Aber das Brausen der Gletscherwasser erstickte jedes Geräusch. Das Licht des Grenzpostens brannte jetzt viel näher. Atan ging mit wachsender Vorsicht. Es kam vor, daß er stehenblieb, den Boden aufmerksam untersuchte, bevor er sich mit Ilha vorwärtsbewegte. Hier und da war der Boden so steil, daß die Pferde ins Rutschen kamen; dann drängte Atan sie an die Bergflanke. Stundenlang – wie mir schien –
    arbeiteten wir uns verbissen den Berghang hinab. Der Atem der Pferde ging rascher, ihr Gang war steifer geworden; ihre schwere Ausdünstung schlug mir bei jedem Schritt entgegen. Der letzte Abschnitt des Hanges war der schlimmste. Atan nahm mir Bembas 223
    Zügel aus der Hand, führte beide Tiere, während ich ungeschickt und schwitzend hinter ihm her rutschte. Meine Knie schmerzten bei jedem Schritt. Krämpfe liefen durch die Muskeln meiner Waden und Schenkel. Endlich wurde der Boden flacher. Eine schwere, kalte Luftschicht ließ mich frösteln. Das Wasser toste. Noch ein paar Schritte, und plötzlich stapften wir auf sandigem Boden. Atan nickte mir zu, gab mir ein Zeichen, in den Sattel zu steigen. Ich zog mich an dem Pferd hoch, wobei ich vor Schmerz mit den Zähnen knirschte. Ich hatte mir an der Felswand einen Finger blau geschlagen; er tat heftig weh, und ich steckte ihn in den Mund, eine lächerliche, kindliche Geste. Von den nassen Flanken der Pferde stiegen Dampfschwaden auf. Sie bewegten sich nervös hin und her, wie das Pferde oft nach größerer Anstrengung tun, und wir mußten sie fest am Zügel halten. Atan versuchte nicht, sie anzutreiben. Er wußte genau, wann er die Pferde zu schonen hatte. Er streichelte Ilha zwischen den Ohren, beugte sich tief herunter, sprach leise zu ihm in den sanften Lauten der Khampa-Sprache. Im Schritt gingen wir weiter, bis die Tiere sich beruhigt hatten. Der Pfad, der zur Brücke und zum Grenzposten verlief, machte einen großen Bogen nach Süden. Wir ritten weiter in westlicher Richtung, nahezu unsichtbar im Schatten der Berge. Die Tiere hatten sich wieder erholt und behielten jenen leichten, raumgreifenden Trab bei, in dem die Pferde ganz natürlich laufen, wenn man ihnen die Zügel freigibt. Unter ihren Hufen war der Boden schwarz und steinig. Die Landschaft erstreckte sich vor unseren Augen in Schwarz- und Grauschattierungen. Aber gleichzeitig hatte die dunkle Luft auch eine eigenartige Klarheit. Die weißen Kiesel leuchteten schwach im Schein des zunehmenden Mondes, und zwischen dem Buschwerk kräuselte sich das Wasser in glitzernden Schuppen. Es mußte an der farbenschluckenden Klarheit der Nachtluft liegen, daß ich jedes Empfinden für die Entfernung verlor. Ich fühlte, wie mein Körper sich entspannte, wie mir die Augen zufielen. Ich hatte nur noch ein einziges Bedürfnis: Schlafen! Doch wir hatten unser Ziel noch nicht erreicht. Und wenn ich mich nicht täusche, dachte ich müde, steht uns der schwierigste Teil der Strecke noch bevor.
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26. Kapitel

    I ch täuschte mich nicht. Nachdem wir nahezu eine Stunde im Schatten der Berge geritten waren und fast das Ende des Hochtals erreicht hatten, lenkte Atan sein Reittier auf den Flußarm zu. Die Strömung trieb schwarz und geheimnisvoll dahin. Die Wellen schlugen und schäumten an vereinzelt aus dem Strom ragenden Felsen. Vorsichtig schritten die Pferde über Sand und angehäufte Kiesel. Atan hatte mir gesagt, daß die Stelle, an der wir den Fluß überqueren konnten, nie die gleiche war, weil der Gletscherarm Schlamm und große Mengen Treibholz führte. Mehrmals im Jahr veränderte die Strömung ihren Lauf, teilte sich in Bäche, fraß sich durch Sandbänke. Lange Zeit ritten wir dicht am Ufer entlang. Schon schimmerte im Osten das Silber der Dämmerung hervor, als

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