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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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ersten blauen Schatten erwachten. Atan schien weder Hunger noch Durst oder Müdigkeit zu verspüren. Halb benommen überließ ich mich dem Instinkt meines Pferdes, als Benba unvermittelt den Kopf hob und schnupperte. Der Wind trug uns ein fernes Rauschen entgegen. Im selben Augenblick war es, als ob die Felsen wie ein bewegliches Bühnenbild zurückwichen. Vor uns, fünfhundert Meter tiefer, mündeten zwei Gletscherarme. Das Wasser lief im weiten Bogen durch das Hochtal, schäumte in Kaskaden in die weite Ebene hinab.
    Atan hatte sein Pferd im Schatten eines Felsens angehalten. Nun endlich wandte er mir den Kopf zu. Ein fast unmerkliches Lächeln zuckte um seine Augen.
    »Die Grenze verläuft entlang dem Wasser. Auf der anderen Seite liegt Tibet.«
    Ich bewegte mit Mühe die trockenen Lippen.
    »Und wie kommen wir hinüber, Atan?«
    Er streckte mit knapper Bewegung die feingliedrige Hand aus.
    »Siehst du die Brücke dort? Da ist der Grenzposten.«
    Die Brücke aus roh gezimmerten Ästen und geflochtenen Seilen hing in der Mitte ziemlich stark durch. Tragseile waren an 221
    Holzpfeilern befestigt. Man sah einige schwarze Punkte, die sich bewegten. Die Brücke konnte nur von Fußgängern benutzt werden.
    Reisende mußten ihre Maultiere oder Pferde am Zügel führen.
    »Hier sind die Paßkontrollen sehr gründlich«, sagte Atan. »Aber weiter unten im Tal gibt es seichte Stellen im Fluß. Wir müssen vor Tagesanbruch hinüber. Wir rasten hier, bis es dunkelt.«
    Er half mir aus dem Sattel; ich machte ein paar taumelnde Schritte und erblickte einen Steinhaufen – Lahrtsen genannt. An jedem Gipfel und an jedem Paß steht ein solcher Steinhaufen. Hier sprechen alle Reisenden die Beschwörungsformel »Om mani pd ame hum«, bitten die Götter um Beistand und legen einen Stein dazu, damit der Lahrtsen höher in den Himmel wächst. Auch wir vollführten diese rituelle Handlung. Nachdenklich und erschöpft betrachtete ich die Gebetsfahnen – verblichene Baumwollfetzen, die an einer dünnen Stange flatterten. Auf den Flügeln des Windes trugen sie Segensbotschaften für alle lebendigen Geschöpfe, Menschen und Tiere, den Wolken entgegen.
    Inzwischen stapfte Atan zu seinem Pferd, schüttelte die Feldflasche und schraubte sie auf. Ich sollte sparsam mit dem Trinkwasser sein, meinte er.
    »Wir können hier kein Feuer machen, die Luft ist zu klar.«
    Meine ausgetrocknete Kehle brannte. Atan zeigte mir, wie man den Durst löscht, indem man den Tee lange im Mund behält und langsam schluckt. Die kalte Flüssigkeit schmeckte herb und erfrischend. Wir kauten getrocknetes Yakfleisch, tranken abwechselnd ein wenig und warteten auf die Dämmerung. Zwei Adler stiegen mit langsamem Schlag ihrer Schwingen bis hoch zu den violetten Gipfeln. Ich verfolgte mit den Blicken die Raubvögel, die in ihre Nester zurückkehrten. Nach Art der Nomaden hockte Atan ruhig auf den Fersen. Mit größter Sorgfalt erforschte er das Gelände. Seine spähende Suche begann weit in der Ferne und rückte näher und näher, ohne einen Felsen oder eine vorspringende Kante auszulassen.
    Schließlich nickte er mir zu.
    »Schlaf! Nur eine Weile, und du wirst dich besser fühlen.« Ich versuchte, seinen Rat zu befolgen, lehnte den Kopf an den warmen Felsen. Die leisen und undeutlichen Eindrücke für Augen und Ohr, die zu mir heraufdrangen – das blaugoldene Zwielicht, das Wasserrauschen, der duftende Wind, der weiche Ruf einer Eule – das alles mischte sich zu einem Strudel, der sich schneller und schneller in meiner Wahrnehmung drehte. Ich schlief ein.
    222
    Eine Hand schüttelte leicht meine Schulter. Ich schreckte hoch.
    Atans Gestalt ragte vor mir in der Dunkelheit auf.
    »Es ist Zeit«, sagte er.
    Ich rieb mir benommen die Augen. Vereinzelte Lichter blinkten im Hochtal. Oberhalb der Hängebrücke war der Grenzposten hell erleuchtet.
    »Sie haben einen eigenen Generator«, sagte Atan.
    Ich hatte mit dem Kopf gegen den Stein gelehnt; jetzt taten mir nicht nur Rücken und Schenkel, sondern auch der Nacken weh.
    Mühsam kam ich auf die Beine. Atan öffnete die Feldflasche. Jeder von uns trank einen langen Schluck. Doch der kurze Schlaf hatte Wunder gewirkt, ich fühlte mich wieder kräftig. Wie immer bei Nachtanbruch war die Temperatur stark gesunken. Die Mondsichel stand tief und schräg. Weiße Sternenschwärme funkelten am Himmel.
    Während ich tastend den Reißverschluß meiner Windjacke schloß, sagte Atan:
    »Wir müssen die Pferde am Zügel führen. Weiche

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