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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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lachte.
    »Du bist verflixt gerissen, Atan.«
    »Deswegen bin ich noch am Leben. Es hat wenig Sinn, sich vor einer Maschine in Tiefflug verbergen zu wollen.«
    Die Spannung der letzten Stunden war verflogen. Der trockene Sand gab unter mir nach, bildete eine weiche, bequeme Mulde. Atan hatte seinen Wolfspelz über mich ausgebreitet. Ich sah ihn im Feuerschein, wie er mit einem Zweig in der Glut stocherte. Der Himmel über der Bergkette schimmerte veilchenblau, die Sterne verblaßten. Ich bin in Tibet, dachte ich im Rhythmus meiner Atemzüge, ich bin auf dem Weg zu dir, Chodonla. Bitte, bleib am Leben. Bitte, warte auf mich… Unvermittelt schlief ich ein, und das Glucksen und Rauschen des Wassers verfolgte mich im Schlaf.
    Plötzlich sah ich am anderen Ufer eine weißgekleidete Gestalt. Ich erkannte sie sofort. Chodonla! Ich dachte erschrocken, warum trägt sie ein weißes Kleid? Weiß ist bei uns die Farbe der Reinheit, aber auch die des Todes. Ich winkte ihr zu, rief ihren Namen. Sie lächelte, ihr Lächeln war hell und wunderbar. Langsam begab sie sich in die Strömung. Sie schien auf dem Wasser zu schweben, wie ein Geist.
    Freude erfüllte mich. Da bemerkte ich voller Entsetzen, daß sie bei jedem Schritt tiefer in die Fluten sank. Es schien ihr nichts auszumachen; ihr Gesicht war heiter und unbeschwert. Ich rief erneut ihren Namen, streckte die Hand nach ihr aus. Doch das Wasser erreichte bereits ihre Brust. Die Strömung trug sie fort, einem Strudel entgegen. Sie überließ sich dem Wasser, ein 227
    schwebendes Lächeln umspielte ihren Mund. Plötzlich – in meinem Traum – bewegte sich etwas im Dickicht am anderen Ufer. Wo Chodonla soeben gestanden hatte, stand jetzt ein Kind. Ein kleines Mädchen im roten Kleid, mit langen, blauschwarzen Haar. Ihr Blick war ernst und durchdringend. Auf ihrem Gesicht war kein Gefühl zu erkennen. Plötzlich drehte das Mädchen sich um. Ich sah seine Haare fliegen. Und dann war es weg, im Schatten verschwunden. Und was nun, ging es mir durch den Kopf? Was soll ich jetzt machen? Ich hörte mich die Fragen sehr deutlich aussprechen und wachte auf.
    Mein Herz pochte heftig, als ich blinzelnd die Augen öffnete. Die Bäume hoben sich wie Scherenschnitte vor dem gelben Himmel ab.
    Aus dem Unterholz erklang das erste Zwitschern, mit dem die Vögel den Tag verkündeten. Schon brannte das Feuer warm und hell, das Teewasser kochte. Ich hörte ein Klirren von Zaumzeug. Atan war dabei, die Pferde zu satteln. Er warf mir einen scharfen Blick zu.
    »Noch müde?«
    Ich setzte mich auf.
    »Atan?«
    »Ja?«
    »Habe ich im Schlaf gesprochen?«
    Er nickte.
    »Du hast gesagt: Und was nun? Was soll ich jetzt machen?«
    Eine feuchte Luftschicht lag auf meinem Gesicht. Ich holte fröstelnd Atem.
    »Ich habe von Chodonla geträumt. Und auch von Kunsang. Es war kein schöner Traum.«
    Wortlos wandte er sich um, fuhr fort, beiden Tieren Satteldecke und Sattel aufzulegen. Ich ging zum Fluß, putzte mir die Zähne, tauchte die Arme ins Wasser und wusch mir das Gesicht. Das Wasser war eisiger als die Luft. Meine Bergschuhe waren noch naß.
    Ich behielt die frischen Socken an und zwängte meine Füße in die feuchten Schuhe, in der Hoffnung, daß die Körperwärme das Leder bald trocknen würde. Die Wärme des flackernden Feuers, der heiße Tee, mit Tsampa-Mehl dick verrührt, verliehen mir neue Kraft.
    Als wir aufbrachen, flammte die Bergkette in allen Farben von mohnrot bis rosa, von lila bis blau. Eine Stunde lang ging es sehr steil bergauf. Das Tal war wie ein Kessel, der von senkrechten Wänden umschlossen wurde. Im Westen ergoß sich der Fluß in tosenden Stromschnellen bergabwärts, um jenseits der Grenze die Äcker zu befruchten. Abgesehen von dem Pfad, auf dem wir ritten, 228
    konnte ich keine Möglichkeit entdecken, wie Menschen Zutritt zu dieser Schlucht erlangten. Ein Weg war nicht zu sehen, die Atmosphäre des Ortes war wild und einsam wie der Schrei eines Brachvogels im Wind.
    Sogar die sicheren Pferde gingen sehr vorsichtig; streckenweise mußten wir absteigen und sie am Zügel führen. Bald zeigte sich, daß auf der Rückseite des Tals ein Pfad hinaufführte, der auch für die Pferde zu erklimmen war. Der verlassene Weg zog sich unter überhängenden Felsformationen hindurch. Man konnte mit den Armen die steinernen Mauern berühren. Doch je höher wir stiegen, desto breiter öffnete sich vor uns das Hochland. Die Fichtenwälder leuchteten smaragdgrün, und dazwischen schimmerte

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