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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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gewöhnlich als Ohrring tragen und dem Schutzkräfte gegen Halserkrankungen zugeschrieben werden.
    Inzwischen fanden sich die Gäste in der Jurte ein und wurden von meiner Großmutter mit Gerstenbier bewirtet. Sie bot auch Blättertabak an. Jeder konnte sich mit diesem Tabak einige Zigaretten drehen, die dann in das lange Haar gesteckt wurden.
    Wenn alle getrunken hatten, warf Shelo eine Handvoll Gerstenkörner in die Jurte und verneigte sich in alle vier Himmelsrichtungen. Dann klopfte sie mit der Faust neun Mal auf den Boden, um die bösen Geister zu verscheuchen, und setzte sich unter den Firstbalken auf einen Teppich. Derjenige, der diese Zeremonie erbeten hatte, reichte ihr Gerstenbier in einer Silberschale. Shelo tauchte zwei Finger der linken Hand in die Schale und besprengte alle Gäste mit dem Bier.
    Der Rest wurde auf dem Boden verschüttet. Nun brachte man der Schamanin ihr symbolisches Reittier, die Trommel. Es war eine Rahmentrommel aus Weißholz, mit Kupferschellen und verblichenen Stoffstreifen versehen. Das schwärzliche Trommelfell zeigte, daß sie sehr alt war. Der mit Marderfell umwundene Schlegel wurde >die Peitsche< genannt. Shelo hielt die Trommel zuerst in die Nähe des Feuers, um sie anzuwärmen; man hatte kleine Herzkugeln 237
    getrocknet und angenehm duftende Räucherblätter in die Glut gestreut. Sobald die Trommel erwärmt war, wurde sie von Shelo geschultert. Uma half ihr, das Instrument in die richtige Lage zu bringen, und reichte ihr den Schlegel. Einige Atemzüge lang verharrte Shelo völlig regungslos, als ob sie ihre Kräfte sammelte.
    Dann berührte sie mit dem Schlegel das Trommelfell, schlug den ersten Ton. Er verursachte ein dumpfes Brummen: >Hör zu!< Wie ein Echo schlug sie den zweiten Ton, und die Trommel gab Antwort:
    >Ich bin bereit.< Shelos Gesicht war wunderbar ruhig. Die halbgeschlossenen Lider ließen das Weiß des Augapfels sehen. Nur ihr Arm hob und senkte sich, während die Schläge wellengleich durch die Jurte fegten. Einige Minuten lang geschah nichts, dann ließ ein Luftzug alle erschauern. Sie wußten, daß sie sich nicht bewegt hatten, aber sie wußten auch, das Geisterpferd war nahe. Jeder konnte seinen Atem spüren, genau beobachten, wie es in ihr Blickfeld glitt und dann wieder daraus verschwand.
    Seine Hufe hoben und senkten sich in wirbelndem Rhythmus, die Augen funkelten, die Mähne wehte wie ein Kometenschweif. Alle wußten, was geschehen würde, und erlebten trotzdem einen Augenblick des Staunens, als Shelo sich auf seinen Rücken schwang, mit ihm in silberklare Weiten schwebte. Sie überflogen glitzernde Sternenmeere, durchquerten pulsierende Glutlöcher, tauchten in leuchtende Schatten. Überließ sich Shelo dem Geisterpferd, konnte niemand - am wenigsten sie selbst – vorhersagen, wohin sie die
    >Schatzsuche< führen würde. Ihr Gesang beschrieb die Bilder, die ihr auf der Reise begegneten, und alle, die in der Jurte versammelt waren, ließen sich von ihm tragen. Die Trommel trieb sie voran, rief sie zurück, wenn sie ihrem Rhythmus entflohen, holte sie ein, um sich wieder mit ihnen im Wirbel der Schläge zu vereinen. Jeder Gast nahm an der Reise teil, jeder sah ein anderes Bild, eine andere Landschaft, ein anderes Gesicht; und die erschauten Wunder erfüllten sie mit ungeheurer Kraft und überwältigender Freude. Jeder erkannte die Dinge, die ihm wichtig und teuer waren, erlebte den Wohlstand und das Glück, die er für sich, seine Familie und seine Herden erträumte. Und dann, in langsamen Abstufungen, verdunkelte sich das Weltenmeer. Die Trommel schwieg, das Geisterpferd ruhte. Sanft, wie ein Frühlingsregen fällt, schwebten die Teilnehmer aus fernen Welten wieder auf die Erde zurück, der Erfüllung ihrer Wünsche gewiß. Der uralte Zauber wirkte: Aus Ferne wurde Nähe, und aus Nähe wurde Sein. Denn sie hatten die 238
    Gedanken der Zukunft gedacht. Jeder herbeigesehnte Wunsch mußte zwangsläufig Wirklichkeit werden, die Kraft des Glaubens ihm Gestalt und Leben verleihen. Die Menschen waren fest und zutiefst überzeugt davon.
    Eine Zeitlang verharrte Shelo in todesähnlicher Erstarrung. Noch war sie mit der Vision nicht fertig. Sie saß hoch aufgerichtet; ihre weit geöffneten Augen blickten ins Leere. Sie war empfindungslos geworden, atmete kaum hörbar; ihre Haut war eisig, ihre Lippen blutleer. Ihr Herz klopfte langsam, ihr Puls schlug regelmäßig und schwach. Das war jedesmal ein schmerzvoller Augenblick. Sie erwachte sehr langsam, unter

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