Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
Vom Netzwerk:
Satellitenbildern die Sterne betrachtet. Ich hätte einen Teil der Ernte an die Klöster abgeliefert, Butter für die Lampen gespendet und die hohen Lamas geehrt, die durch ihre Gebete die Welt vor der Vernichtung bewahren. In meiner Einfalt hätte ich ein zufriedenes Leben geführt. Das Schicksal hat es nicht gewollt, und die Erde hat mich lange genug getragen.«
    Ich sagte matt:
    »Aber wenn du Hoffnung brauchtest, wer konnte sie dir geben?«
    Mit starrem Blick betrachtete er die Flammen, die sein Gesicht beleuchteten. Sein Antlitz schimmerte wie aus Bronze, reglos, kein Muskel zuckte. Es ist nicht nur die Bräune, dachte ich in jäher Ergriffenheit, der Staub aller Steppen hat seine Haut gegerbt und verdunkelt.
    »Der Gesang meiner Mutter«, antwortete er.
    235

27. Kapitel

    »E s ist so lange her«, sagte Atan, »und ich höre nicht mehr ihre Stimme. Nur der Klang schwebt noch irgendwo in mir, dicht hinter dem Rand der Erinnerung. Manchmal wache ich auf, und er verblaßt gerade. Doch eines Tages wird er ganz entschwinden. Ich weiß das und finde mich damit ab. Was bleibt, sind ihre Melodien, ihre Worte, leuchtend wie am ersten Tag ihrer Erschaffung. Meine Mutter sang nur die guten Worte. Nie öffnete sie ihre Lippen zu einem Fluch.
    Auch nicht, als sie starb. Da betete sie zu den Göttern.«
    Atan sprach mit eintöniger, gleichmäßiger Stimme. Ein bitterer Zug lag um seinen Mund. Ich hatte stets versucht, mir eine genaue Vorstellung von ihm zu machen. Seine ungewöhnliche Einstellung zum Leben faszinierte mich. Auf die ihm eigene Weise war Atan ein Aristokrat, Angehöriger eines Adels der höheren Einflüsse, der unsichtbaren Mächte, erblich und unangreifbar. Ich glaubte kaum, daß er unredlich handeln konnte, auch wenn er es gewollt hätte.
    »Du sagtest, deine Mutter rief die Geister herbei?«
    Er beugte sich vorwärts und hielt die Hände ans Feuer; ich sah, daß sie zitterten. Der Schmerz in ihm mußte stark sein.
    »Sie löste zuerst ihr Haar, was mehrere Stunden in Anspruch nahm. Denn nach Art der Nomadenfrauen trug sie es – zu Ehren Buddhas – in hundertacht Zöpfen geflochten. In der Welt der Geister aber ist das Haar mit dem Gras verbunden, mit den Pflanzen und dem wachsenden Wald. Und gleichzeitig entspricht das menschliche Haar den Federn, dem Element der starken Schwingen der Vögel, die, von jeder Schwerkraft befreit, unsere Seele zu den Göttern tragen. Eine Gebetsfahne ist nichts anderes als das Symbol der Feder, Kennzeichen der geflügelten Kreatur, die mit den Windströmen zu den Berggipfeln steigt. Hast du das nicht gewußt?«
    Ich schüttelte langsam den Kopf. Von meinen tiefen Wurzeln getrennt, hatte ich dieses Wissen verloren. Er jedoch sah eine andere Welt, eine andere Erde. Die Jurten seiner Kindheit waren Treffpunkt der Himmels- und Erdmächte, die Milchstraße die Naht des kosmischen Zeltes. Im Zentrum der Jurte schwang sich die große Firststange dem Polarstern entgegen, leitete die Kräfte der Gestirne tief in den Boden, ein niemals versiegender Strom der Energien. Und unter der Firststange herrschte die Frau, die Lebensspenderin. Der Mann war dazu geschaffen, ihr seinen Samen zu spenden, das Kind 236
    zu zeugen. Seine Kraft stand im Dienste der Mutter, die Menschen und Götter hervorbrachte. Die Frau trug und nährte das Kind, die Frucht, um die sich alles dreht. Sie war das Heiligste auf Erden. Der Mann war ihr Schutzschild. Mehr nicht.
    »Nachdem Shelo ihr Haar gelöst hatte, wusch sie ihre Hände in einem Waschbecken, kleidete sich in ein weißes Gewand und knotete sieben Gürtel um ihre Taille. Jeder Gürtel entsprach einer Farbe des Regenbogens. Shelo konnte die Gürtel nicht ohne Hilfe befestigen. Uma, meine Großmutter, half ihr dabei. Die Gürtel mußten auf besondere Art geschlungen werden, um Shelos Körper vor den Zugriffen der Geister zu schützen. Denn eine Schamanin in Trance ist durchlässig für fremde Wesenheiten und kann ebenso von guten wie von bösen Geistern heimgesucht werden. Über ihrem Gewand trug Shelo einen besonderen Umhang. Er war aus Hirschleder, mit Türkisen und Muscheln behangen. Auf der Vorderseite leuchteten zwei Brustplatten aus Silber. Zwei weitere Platten waren an den Schultern angebracht. Ihr Kopfputz, mit Federn geschmückt, hatte die Form eines Dreispitzes. Zwei dieser Spitzen versinnbildlichten die Ohren des >heiligen Pferdes<, das die Seele der Schamanin zu den Geistern trug. An der Kopfbedeckung hing ein Mondstein, den die Frauen für

Weitere Kostenlose Bücher