Die Tibeterin
ist.
»Ja?«
»Erzähl weiter«, sagte ich.
Er straffte sich, warf einige Zweige in die Glut. Er hatte wieder vollkommene Gewalt über sich selbst, vollkommene Ruhe. Die Worte kamen ihm gelassen von der Zunge.
»Die Familie meines Großvaters«, begann er, »gehörte zu den berühmten »Zehn Sippen von Nangchen«. Sie kamen von dorther, wo die Sonne aufsteigt; sie bewachten ihre Herden und gründeten niemals Städte. Wenn das Gras abgeweidet war, zogen sie weiter.
Sie pflanzten kein Getreide an, aber ihre Waffen waren stets die besten. In ihren Werkstätten unter freiem Himmel schmiedeten sie Säbel und Lanzen, auch Gewehre. Sie hatten die Ebenen bis zum Gelben Fluß erobert, das »Volk der Gräser« – die Ackerbauern –
unterworfen. Das Blut, das in ihren Adern floß, war das Blut der Könige. Sie lebten in Steppen und Hochtälern; die wilden Tiere, die Wölfe, die Bären, die Schneeleoparden waren ihre Gefährten. Im Frühling begaben sie sich bewaffnet auf die Wanderschaft, um in den Städten Tauschhandel zu treiben. Doch im Laufe der Jahrhunderte änderten sich ihre Lebensgewohnheiten. Zuerst suchten sie in Hütten Zuflucht vor den Winterstürmen, dann bauten sie Häuser für die kalte Jahreszeit.
Unser Haus befand sich in der Klosterstadt Lithang und war nicht aus Lehm, sondern aus zerschlagenen Felsblöcken gebaut. Ein eisenbeschlagenes Doppeltor aus massivem Holz führte in den gepflasterten Hof mit den Stallungen für die Pferde. Quadratische Steinsockel erlaubten ein müheloses Besteigen der Reittiere. Die Herden überwinterten im Freien, wurden aber bei starkem Schneefall in Gehegen untergebracht, damit sie vor wilden Tieren sicher waren.
Das Haus hatte hochgezogene Mauerpfeiler an den vier Ecken des Flachdaches, was ihm das Aussehen einer türm- und zinnenbewehrten Burg gab. In Kham trug jedes Haus am Dachfirst die Symbole des Phurbu, des dreikantigen Zauberdolches mit dem Yakschwanz, die Beschwörungszeichen gegen Blitz und Donner.
242
Diese Steinsymbole waren oft schon uralt und zerbröckelt. In alle Hauswände war das linksdrehende Hakenkreuz eingeritzt, in der Bôn-Religion das Emblem der vier Himmelsrichtungen. In die Enden der Deckenbalken waren Tierköpfe geschnitzt. Zu dem Flachdach gelangte man mit einer Leiter. Dort stand der große Weihrauch-Opferofen für das Morgengebet. Auf dem Dach wurde Brennholz aufgeschichtet und das Heu im Herbst über dem Dachrand getrocknet. Auf Strohmatten und Leinentüchern lagen Buchweizen, Gerste, Mais, Erbsen, Raps und Hanf. Gelbe Kürbisse waren aufgeschichtet. Vor Beginn der Schneefälle wurden die Wintervorräte ein letztes Mal in der Sonne gewendet und das Heu gestapelt. Auf dem Dach lagerten auch die Rückstände des Gerstenbiers, das in großen Holzgefäßen gärte. Das Leben war hart; nichts durfte vergeudet werden. Unten im Haus gab es einen besonderen Raum, mit Löchern im Boden, wo wir unsere Notdurft erledigten. Die Fäkalien wurden in Behältern gesammelt und als Dung verwendet.
Grundsätzlich waren unsere Häuser die steinere Übertragung der Nomadenzelte. Ein einziger großer Raum diente als Koch-, Wohn-und Schlafbereich. Der Boden war aus gestampftem Lehm und blitzsauber. In der Mitte befand sich die aus feuerfestem Lehm gebaute Kochstelle, das Zentrum des Familienlebens. Ähnlich wie in China besaß sie drei große, eingemauerte Kessel, jeder dafür vorgesehen, ein besonderes Gericht zu kochen. Wie auch in der Jurte war Yakmist, zu Kugeln geformt und getrocknet, das wesentliche Brennmaterial. Neben dem Herd stand auch der große Holzzylinder zur Bereitung des Buttertees. Die Möbel bestanden zumeist aus Truhen mit wuchtigen Kupferbeschlägen und allen möglichen Ornamenten. Wir schliefen auf Matten, mit Haaren von Moschustieren ausgestopft und mit seidenbezogenen Kissen gepolstert. Der wichtigste Gegenstand im Raum war der Hausaltar.
Ein kunstvoll geschnitzter Tisch aus Walnußholz trug 108 kleine Silberbecher für das Wasseropfer sowie eine Anzahl kostbarer Butterlampen. Vor der Buddhastatue brannte Tag und Nacht Weihrauch, der ganze Raum war von dem angenehmen Duft erfüllt.
Auf dem Altar lag eine Gebetsschnur; hier wurde ebenfalls der Phurbu-Dreizack aufbewahrt. Er war aus schönem Stahl mit edelsteingeschmücktem Griff und steckte in einer Opferschale voller Reiskerne.
Denke ich an meine Kinderjahre in Lithang, so höre ich das Bellen 243
der Hunde, das Krähen der Hähne von Hof zu Hof, die Rufe der Stadtbewohner, den
Weitere Kostenlose Bücher