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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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vielstimmigen, tiefen Summton der betenden Mönche. Doch meine Welt ist nicht mehr – sie überlebt als Kulisse, als Touristenfalle, als Lockmittel für ausländische Devisen. Was kann ich anders tun, als sie tief in mir zu bewahren? Aber ich darf nicht zuviel an sie denken. Ich habe nicht die Kraft, wie meine Mutter sie hatte.«
    Ich nickte. Atan fuhr fort:
    »In Lithang waren die Häuser verschachtelt wie Bienenwaben. Wir Kinder kletterten über Leitern, sprangen von Dach zu Dach und wurden in jedem Haus mit Gelächter und Leckereien empfangen.
    Dann, sobald der Schnee unter der Frühlingssonne schmolz, zogen wir wieder auf die Weideplätze. Wir stellten die Jurten auf; die Butterlampen brannten auf dem tragbaren Holzaltar. Wir saßen und schliefen auf niedrigen Bänken, mit Teppichen und Fellen ausgelegt.
    An den Pfählen hingen Lederbeutel in verschiedenen Größen für Wasser, Milch und Proviant. Der Joghurt wurde jeden Tag neu zubereitet, der Käse eingetrocknet. Die geröstete Gerste blieb für Monate eßbar, wenn sie nicht naß wurde. Der Frühsommer war die Zeit, wo die Yaks geschoren wurden. Die Hirten warfen eine Schlinge um das Bein des Tieres, brachten es zu Fall und beraubten es seiner Wolle. Die Yaks kannten die Prozedur und sträubten sich kaum; sie waren uns sogar dankbar, denn in den kommenden heißen Monaten war ihnen das dicke Winterfell lästig.
    Hirten und Bauern waren keine Leibeigenen. Sie verwalteten nach eigenem Gutdünken ihre Äcker, nahmen sich, was sie zum Leben brauchten, und zahlten lediglich Lehnsteuern in Form von Getreide oder Tieren. Sie waren in der Tat die rechtmäßigen Besitzer der Äcker, denn die Lehnsfürsten konnten diese nicht beanspruchen, solange die Steuern pünktlich gezahlt wurden. Das galt vor allem, wenn die Pächter ihr Haus selbst gebaut hatten. Nur ein schlimmes Vergehen gab Anlaß, daß ein Bauer fortgejagt wurde. So kam es, daß manche Ländereien seit Generationen in derselben Familie waren.
    Die Sippen bildeten einen Stammesverband. Die Anführer kamen zu gewissen Zeitpunkten zusammen, um über Fragen der Weidegründe, des Viehbestandes zu entscheiden. Jeder Anführer konnte sein Amt auf seinen Sohn – oder seine Tochter – übertragen, doch nur, wenn diese sich fähig zeigten. An der Spitze des Stammesverbandes stand ein Fürst, der das Land regierte, auf dem die Sippen wanderten.
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    Noch vor fünfzig Jahren gab es kaum Straßen in Kham, nicht einmal eine zuverlässige geographische Karte. Dafür konnten wir mit einer denkwürdigen Geschichte prahlen. Vor 1500 Jahren nämlich hatte unser König Songtsen Gampo die Länder Nepal, Indien, China und Afghanistan unter seine Herrschaft gebracht und somit das größte Reich, das jemals auf Erden bestand, gegründet.
    Aber Erobern ist leichter als Regieren. Nach Songtsen Gampos Tod zersplitterte die Macht, das Reich zerfiel. Seine Nachkommen waren keine sanften Schäfer. Plünderungen mit der Waffe in der Hand waren Vorrecht und Unterhaltung der Steppenreiter. Im 19.
    Jahrhundert rückten die Chinesen mit Straßenverbindungen näher an Kham heran. Wir erteilten ihnen eine Lektion, indem wir 1918 die Grenzstadt Kangting einnahmen. Die Chinesen riefen englische Truppen zur Hilfe. Die Engländer beendeten den Krieg, indem sie unsere Waffenzufuhr über das indische Kalimpong unterbanden und den britischen Konsul als Vermittler schickten. Der Frieden währte bis 1928, als die Chinesen in einen Streit zwischen zwei Klöstern eingriffen. Unverzüglich beglichen wir unsere Scharmützel und fielen in Setchuan ein. Der 13. Dalai Lama erhob mahnend seine Stimme. Wir beugten uns seinem Wunsch. Doch nach seinem Tod rebellierten wir aufs neue, diesmal gleichzeitig gegen China und Lhasa. Unser Kampf gegen die Verwaltung von Lhasa, die wir als unfähig und degeneriert ansahen, währte Jahre und brachte nichts, außer, daß wir schief angesehen wurden. Die Gefahr, die inzwischen aus China drohte, erkannten wir früher als andere, aber man hörte nicht auf uns.
    Mein Großvater Djigme war Clanführer und ein sehr angesehener Mann. Zu seinen Aufgaben gehörte es, jährlich die Weideplätze an die Familien zu verteilen und im »Rat der Ältesten« Recht zu sprechen. Seine Frau Uma war eine Ngolok aus der Provinz Quinghai, südlich des Kuku-Noor, des größten Binnensees der Welt.
    Im Mittelalter waren die Ngolok für ihre Schmiedekunst berühmt.
    Sie fertigten Rüstungen und Helme an, die nur die Augen freiließen, und Panzer

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