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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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Stöhnen und Erschauern. Sobald Uma sie behutsam von der Trommel befreit hatte, legte sie sich dorthin, wo sie war, in ihrem zerknitterten Gewand, und schlief wie eine erschöpfte Bauersfrau ein. Uma nahm ihr den Kopfputz ab, deckte sie mit ihrem Mantel zu. Solange sie schlief, durfte keiner die Jurte betreten.
    Ich weiß nicht, ob Shelo unter ihren Fähigkeiten litt. In jeder Generation gab es eine Frau oder einen Mann, die für den Gesang geboren wurden. Als ich alt genug war, um diese Dinge zu verstehen, sagte Shelo einmal zu mir:
    >Wenn ich auf Reisen gehe, bin ich keine Frau mehr. Ich bin eine Erschaffene, eine Meisterin der Wesen {srid-pa yod-kyi bdag-po).
    Die Welt, die ich betrete, kennt keine Jahreszeiten. Sie ist die Ur-Welt, die vor uns da war und nach uns bestehen wird.< Ich fragte sie, ob ich sie eines Tages in diese Welt begleiten konnte. Sie schüttelte den Kopf. >Nein<, sagte sie, >du bist nicht dafür gemacht.<
    >Wozu bin ich denn gemacht?< fragte ich. Da trübte sich ihr Blick.
    Sie griff sich an die Stirn und seufzte.
    >Das kann ich dir nicht sagen, Atan. Dunkelheit verhüllt es.< Doch sie war nachdenklich und schweigsam an diesem Tag, wie ich es nicht von ihr gewöhnt war.
    Heute nehme ich an, daß die Seelenreisen, die sie durchführte, sich mit den Techniken der gelenkten Phantasie der modernen Psychotherapie vergleichen ließen. Das schöpferische Potential wird gebändigt und gestaltet. Shelos Schutzpatron war Milarepa, ein Heiliger, der im elften Jahrhundert lebte. Der Meister der mystischen Gesänge gehörte dem Orden der Kagyüpa an. Er ist eine mächtige Schutzgottheit, die mächtigste von allen. Shelo nahm ihn allein in ihrer Seele wahr. Zweifellos waren ihre Fähigkeiten bedeutend.
    Manche Gesänge, die sie vortrug, waren längst in Vergessenheit 239
    geraten. Nur die Alten erinnerten sich, sie in ihrer Jugend gehört zu haben. Die Balladen, die Shelo bei ihrer >Schatzsuche< fand, vergaß sie, sobald sie aus ihrer Trance erwachte. Doch die Anwesenden behielten sie in der Erinnerung; sie gaben sie an ihre Kindeskinder weiter, und so leben diese Gesänge noch heute. Auch für mich dichtete sie ein Lied. Als Kind war ich sehr stolz darauf.«
    Ich lächelte Atan an.
    »Wie heißt dieses Lied?«
    »Du würdest die Worte nicht verstehen, weil sie in der Daki -
    Sprache sind. Ich muß die Strophen für dich übersetzen. Warte, laß mir ein wenig Zeit.«
    Nur das Knistern der Flammen, das scharfe Heulen des Sturms waren zu hören. Vor dem Eingang der Nische wirbelte Schnee wie ein Vorhang aus flimmerndem Silber. Atan sagte:
    »Übersetzt klingt es natürlich nicht so schön wie in unserer Sprache.«
    Ich schüttelte den Kopf.
    »Das macht nichts.«
    Mit halb geschlossenen Lippen begann er leise, fast tonlos zu summen. Ich hätte nicht sagen können, ob Atan eine angenehme Stimme hatte. Sie war ungeschult und schien in ihrer Rauheit wie ein natürliches Echo der Steine. Die halb gemurmelten Töne gehörten einem Bereich an, der sich der Macht der vertrauten Rhythmen entzog und der Bewegung der Dinge entstieg, die den Menschen unbewegt erscheinen, weil ihr eigenes Leben nur kurz ist: dem Wachsen und Absterben der Bäume, dem Zerfall der Gebirge, dem Atem des Schnees, dem Kreisen des irdischen Planeten.
    »Wer packt den wilden Yak an den Hörnern?
    Wer zähmt den Tiger mit bloßer Hand?
    Wer fängt das Wasser mit einem Seil?
    Der Sohn der weißen Berglöwin.
    Der Sohn des schwarzen Adlers.
    Er reitet den Sturmwind.
    Er ruft den Blitz,
    Er streift den Mond mit seinem Haar.«
    Die kehlige Stimme verstummte ganz plötzlich, hinterließ eine seltsame Leere in mir. Mir war, als ob sich seine Worte in mein Herz bohrten wie ein Messer. Ich dachte, er wird mich immer in Erstaunen 240
    versetzen. Er saß mit untergeschlagenen Beinen und starrte in die Glut, als ob er dort magische Zeichen erblickte. Sein Gesicht war unbewegt, alterslos wie eine Maske. Doch mir war, als sei irgendwo in seinem Innern ein Damm gefährdet, eine Schranke am Einstürzen.
    Die flackernde Umrißlinie der Flammen umgab ihn wie die schattenhafte Aura des Todes. Ich empfand eine merkwürdige Unruhe deswegen.
    »Es ist ein sehr schönes Lied«, sagte ich sanft.
    Er wandte den Blick nicht von dem Feuer.
    »Ein Mann muß irgend etwas im Kopf haben, wenn er nicht in seiner Haut ersticken will.«
    241

28. Kapitel

    I ch brach nach einer Weile das Schweigen.
    »Atan?«
    Er erwiderte meinen Blick wie jemand, der mit halbem Geist woanders

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