Die Tibeterin
seltsam?«
»Mir ist, ist ob ich dich schon immer gekannt hätte.«
»Als ich in den Vereinigten Staaten war«, sagte er, »hatte ich oft das Gefühl, ein anderer Mensch zu sein. Die Amerikaner boten uns die Chance, unsere Feinde besser besiegen zu können. Deshalb schluckte ich vieles; das Opfer schien mir angemessen. Tests hatten ergeben, daß mein Gefühl für Raumverhältnisse besonders ausgeprägt war. Eine genetische Fähigkeit der Jäger. Leider hat der Mensch im technologischen Zeitalter keine Verwendung für solche Talente – es sei denn, im Militär.«
Der Sturm warf aufheulend einen Schneewirbel in die Grotte. Das Feuer flackerte, und Atan schürte die Glut.
»Wie du weißt, wurde ich in der Auswertung von Luftaufnahmen ausgebildet. Das interessierte mich. Daneben konnte ich Kleidungsstücke mit einer Knochennadel flicken und erkannte den Unterschied zwischen der Fährte eines fliehenden und eines ahnungslosen Hirsches. Als Mann aus der Bronzezeit machte ich dem Army-Psychologen Kopfzerbrechen. Intellektuell erwartete man von mir Beschränktheit. Ich habe noch einen ihrer Rapporte im Kopf: Die Selbsteinschätzung des Analysanden beruht auf dem Wissen seiner Kulturgeschichte und der erfinderischen Kombinationsgabe, mit der er es nutzt. Seine eigene Wertwelt wird dabei niemals in Frage gestellt. Er will sich auch nicht analytisch preisgeben.«
»Das wird’s wohl gewesen sein«, sagte ich und lachte. Er lachte auch.
»Das Interpretieren von Aufklärungsfotos wurde sozusagen zu meinem Job. Ich wurde zum Sergeanten befördert, die Air Force hätte mich gerne in Vietnam eingesetzt. Ich sagte nein. Dieser Krieg war nicht mein Krieg. Außerdem hatte ich anderes zu tun. Denn inzwischen peitschte die große proletarische Kulturrevolution die schlammigen, schmutzigen Wasser aus der alten Welt, wie die chinesische Nachrichtenagentur Hsin hua schrieb, als die ersten Rotgardisten nach Tibet eingeflogen wurden. Die folgende Terrorkampagne kostete eine Million Menschenleben. Nahezu alle 233
Klöster und Heiligtümer wurden zerstört oder dienten als Schweineställe. Der Gebrauch der tibetischen Sprache wurde unterdrückt, wir bekamen chinesische Namen. Handwerk und traditionelle Kleider wurden verboten, wir sollten uns als Maoisten verkleiden. Reformen kamen erst 1980 auf. Die Sinisierung sollte gebremst werden. Natürlich nicht aus menschlicher Einsicht, sondern aus politischer Berechnung. In der inneren Mongolei, an der Grenze zur Sowjetunion, war es zu blutigen Aufständen gekommen. Den Han-Chinesen war das lästig. Die Minderheiten sollten sich –
bitteschön – ruhig verhalten.«
Atans Gedächtnis war besser als meins; ich hatte das alles kaum noch im Kopf.
»Als uns die USA schnöde im Stich ließen, bezogen wir Munition aus Sowjetrußland. Wir sprengten Straßen und Brücken in die Luft, störten ein paar Garnisonen wie Fledermäuse aus ihrer Ruhe auf. Das nützte nicht viel. Schon in den achtziger Jahren standen in Tibet über einhundert nuklearbestückte Raketen. Die Basen für die neuen CSS-4-Raketen, mit Mehrsprengköpfen ausgerüstet, befinden sich in Nongpo, Nyitri und Powo Tamo. In dem sogenannten TAR-Testgelän-de für Atomwaffen ist heute rund ein Drittel des chinesischen Atomwaffenpotentials gelagert. Tibet ist mit einem Netz von Radarstationen und Militärflugplätzen überzogen. Das Testgelände für Nuklearwaffen in Amdo wurde 1990 gebaut. China ist längst in der Lage, Südostasien militärisch zu bedrohen. Nepal hat Angst und katzbuckelt beflissen. Im Krisenfall können hier rasch Truppenbewegungen stattfinden.«
Ich wußte von Karma, daß Mitglieder der chinesischen Botschaft in Kathmandu tibetische Flüchtlinge verhören und fotografieren dürfen. Hunderte wurden zurück über die Grenze gebracht.
»Die Behörden rechtfertigen sich damit, daß die Tibeter keine gültigen Ausweise haben. Aber welcher Flüchtling hat die schon?«
»Nepal ist knapp bei Kasse«, erwiderte er achselzuckend.
»Wie kommt es nur«, fragte ich bitter, »daß du den Mut noch nicht verloren hast?«
Er fuhr sich mit der Hand über die Augen.
»Seit über vierzig Jahren führe ich Krieg gegen China. Das ist ein ganzes Menschenleben. In früheren Zeiten hätte ich mit einer schönen, klugen Frau meine Jurte geteilt. Ich hätte Töchter und Söhne gezeugt und meine Kraft auf sie übertragen. Ich hätte davon gelebt, daß die Herden wachsen, ich hätte aus unverseuchten 234
Wildwassern getrunken und statt
Weitere Kostenlose Bücher