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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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für die Pferde. Selbst heute noch steht für das Wort
    »mächtig« der alte Ausdruck dbu rmog btsan-po, der im übertragenen Sinn »starker Helm« bedeutet. Die Ngolok hatten für buddhistische Friedfertigkeit wenig übrig. Sie waren dafür bekannt, daß sie ihre Gefangenen in frische Yakfelle einnähten und sie in der Sonne trocknen ließen. Seit urdenklichen Zeiten wurden die Ngolok von Königinnen regiert. Diese galten als Inkarnationen der 245
    Berggöttin Drema-Dasma. Adjungdojo, die letzte Herrscherin, starb ein paar Jahre vor meiner Geburt. Sie hatte siebzehn Ehegatten und eine Leibgarde von siebentausend Kriegern, die sie jährlich bei ihrer Wallfahrt zum Heiligen Berg Anyemtaschin begleiteten, wo sie Dankopfer darbrachte und die Geister anrief. Anyemtaschin bedeutet
    »Große Mutter«. Der Berg ist siebentausend Meter hoch. In seinen Gletschern entspringt der Quellstrom des Hoangho, der Gelbe Fluß, der China bewässert.
    Meine Großeltern begegneten sich in Lithang. Uma war zu Pferd gekommen, um ihrem älteren Bruder Tenpa Rimpoche eine Spende zu überreichen. Tenpa Rimpoche, der als Inkarnation im Kloster lebte, war ein weiser und gelehrter Mann, umgänglich und etwas schwerfällig. Als Uma ihr Pferd besteigen wollte, scheute das Tier aus irgendeinem Grund; Djigme gelang es, das Pferd einzufangen und zu beruhigen. Die jungen Leute fanden Gefallen aneinander, die Eltern gaben ihre Zustimmung. Dem Brauch entsprechend, hatte Uma gleichzeitig Djigmes jüngeren Bruder Burgang geheiratet.
    Dieser starb ein paar Jahre später an einer Grippe, die viele Opfer dahinraffte, und so blieb Djigme Umas einziger Gatte. Doch sollte es ihnen nicht vergönnt sein, ein glückliches Leben zu führen. Von ihren ersten vier Kindern überlebte keines das Säuglingsalter. Powo, der fünfte Sohn, starb im Alter von sieben Jahren an Pocken. Als ob sie das Schicksal trösten wollte, brachte Uma schließlich ihr letztes Kind, ein Mädchen, zur Welt. Die Eltern gaben ihr den Namen Shelo.
    Ich muß auf die Bedeutung der Blutsbande in unserer Gesellschaft hinweisen. Die anverwandten Familien werden bei uns »die Knochen« genannt – eine Bezeichnung, die auch in China und Korea gebräuchlich ist. Sie schließt die Verwandtschaft bis ins neunte Glied ein und bringt Pflichten mit sich, auch politische. Die Abstammung durch die Frauen wird Sha -Fleisch – genannt und hat das stärkere Gewicht. Der nächste männliche Verwandte eines Kindes ist der älteste Bruder der Mutter oder der Großmutter. Mein natürlicher Beschützer war also nicht mein Vater, sondern Tenpa Rimpoche, mein Großonkel mütterlicherseits. Die Gegebenheit sollte später für mich von Bedeutung sein, weil mein Vater, wie du hören wirst, ein besonderes Schicksal erlebte.«
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29. Kapitel

    A tan trank einen Schluck Tee und sprach weiter.
    »Meine Großeltern waren sehr wohlhabend. Ihre Herden zählten Tausende von Yaks, Pferden und Ziegen. Den Sitten der Ngolok entsprechend, wurde Shelo kaum anders erzogen als ein Sohn. Das Leben der Nomaden, angeblich frei von Fesseln, besteht in Wirklichkeit aus einer Unmenge winziger, genau zu beachtender Einzelheiten. Mit sieben Jahren wurde Shelo eine kleine Ziegenherde anvertraut. Sie lernte Dri- Yakweibchen – zu melken. Sie half bei der Pferdezucht, führte die Tiere zur Tränke, sah zu, wie die Hengste kastriert wurden und Stuten ihre Fohlen zur Welt brachten. Bald war sie eine kühne und gewandte Reiterin. Oft sah man das kleine Mädchen auf dem Rücken eines jagenden Pferdes, das sie ohne Sattel oder Zaumzeug zu lenken wußte. Sie übte sich auch im Steinschleudern. Dieses Spiel, das der Verteidigung gegen Raubvögel und wilde Tiere dient, lernen alle Kinder, sobald sie die Herden hüten. Als Shelo größer wurde, lernte sie mit einem Gewehr umzugehen. Aber Kham ist auch das Land der besten Bogenschützen. Wir benutzten Bogen aus Birkenholz, kurz und stark. Als Heranwachsende zeigte sich Shelo in dieser Kunst sehr geschickt und erregte bei jedem Wettkampf Bewunderung.«
    Atan stockte, seine Augen blickten wild umher. Das flackernde Licht ließ seine Wangen noch eingefallener, die Schatten unter den Augen noch tiefer erscheinen. Was immer er in den Flammen sah, es waren Gespenster. Sie stürzten aus allen Schatten hervor, webten das Gefüge der Erinnerungen, in dem er sich verstrickte. Mit einem Gefühl der Scheu goß ich Tee in die Schale.
    »Trink!«
    Er leerte die Schale, wischte sich mit dem Handrücken über die

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