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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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zurück auf den Ellbogen. Seine dunkles Gesicht war mit einem leichten Schweißfilm überzogen. Die Pferde standen still und schliefen; noch blies der Wind, war aber schwächer geworden. Nur vereinzelte Schneeflocken wirbelten aus der Dunkelheit. Atan hustete schwer und erschöpft. Mir fehlte die Kraft, ihm zu sagen, nun sei es genug. Wie entsetzlich muß es gewesen sein, dachte ich, wie grauenhaft! Nach einer Weile schaute Atan mit mattglänzenden Augen auf.
    »Sag nichts über den verdammten Husten«, knurrte er. »Ich habe so viel geredet, da würde selbst eine Dogge heiser werden.«
    »Ist der Tee noch heiß?« murmelte ich. »Komm, trink etwas… «
    Er nahm den Becher, den ich ihn reichte, trank in langen, durstigen Zügen. Ich schluckte würgend.
    »Kennt Chodonla diese Geschichte?«
    Er wischte sich über den Mund.
    »Nein.«
    »Wer kennt sie?«
    »Nur du.«
    Ich starrte ihn an.
    »Spiel nicht mit mir, Atan. Ich kann dir das nicht abnehmen.«
    »Und doch ist es die Wahrheit. Vor einem Feind bin ich nie davongelaufen. Vor mir selbst jahrelang.«
    Ich sagte nichts. Das mag stimmen, dachte ich. Das Kind, das in inniger Gemeinschaft mit den Kräfte der Natur lebte, hatte er aus seinem Gedächtnis verbannt. Jetzt war er, durch alle Zeiträume seines Lebens, den dunklen Weg zurückgegangen. Und dort, wo es hell wurde, wartete das Kind. Doch es war gestorben.
    Ich legte die Hand an Atans Gesicht, streichelte es sanft, ließ meine Fingerspitzen über Wangen und Mund gleiten.
    »Es tut mir leid. Vielleicht hätten wir nicht darüber reden sollen…
    «
    Er straffte sich ein wenig.
    »Doch. Das alles steckte in mir wie ein fester Klumpen Blut.
    Jahrelang habe ich alle diese Bilder von mir ferngehalten. Ich war nicht bereit, mir Rechenschaft zu geben.«
    »Ich habe das Gefühl«, sagte ich, »daß ich dich jetzt besser verstehe. Was ich nicht verstehe, ist… «
    334
    Ich stockte. Er warf mir einen Blick zu.
    »Die Sache mit deinem Vater, meinst du?«
    Ich nickte wortlos.
    »Warte«, sagte er. »Es gibt vielleicht eine Erklärung.«
    »Und du kannst mir sagen, welche?«
    Unvermittelt glitt ein Lächeln über sein Gesicht.
    »Veranlagung«, brummte er. »Du weißt inzwischen, daß ich früher gewisse Fähigkeiten hatte.«
    »Und heute nicht mehr?«
    »Soll ich weiter erzählen?«
    Ich sah auf meine Uhr.
    »Es ist fünf. Noch zwei Stunden, bis es hell wird.«
    »Bist du müde?«
    Ich seufzte.
    »Nein. Nur traurig.«
    Er verzog bitter den Mund.
    »Und was geschah danach?« fragte ich.
    »Ich wurde krank«, sagte Atan. »Lungenentzündung, innere Blutungen, Hungerödeme und eine beginnende Hirnhautentzündung.
    Damals war mir das natürlich nicht klar. Ich fühlte mich bloß entsetzlich elend. Als Nomaden mich in den Hügeln fanden, war ich nur noch Haut und Knochen. Sie hatten selbst nur das Nötigste zum Leben, aber sie teilten es mit mir. Über einen Monat lag ich todkrank und von quälenden Alpträumen heimgesucht in ihrer Jurte. Daß ich überlebte und allmählich wieder zu Kräften kam, verdanke ich meiner zähen Natur und der aufopfernden Pflege meiner Gastgeber.
    Lithang war gefallen. Aber zahlreiche Stämme waren in die Berge geflüchtet und sammelten ihre Kräfte für den Widerstand. Alle Herden waren von den Chinesen beschlagnahmt worden: ich besaß kein einziges Schaf mehr! Doch später gelang es mir, ein Pferd zu stehlen. Und als ich, zerlumpt wie ein Bettlerkind, zu den Kriegern in den Bergen stieß und sagte: »Ich will kämpfen!«, da war keiner, der mich verhöhnt hätte. Man wußte, wessen Sohn ich war. In Kham galt meine Mutter bereits als Legende. Mein Schicksal hatte sich schnell herumgesprochen. Und so wurde ich in einer ganzen Reihe von Magars – Kriegslagern – hart, aber zweckdienlich erzogen.
    Erfahrene Kämpfer hielten es nicht für unter ihrer Würde, mich auszubilden. Und so ritt ich mit den Kriegern und lernte mein Handwerk.
    Nach der Bombardierung von Lithang setzte die 335
    Volksbefreiungsarmee ihr Zerstörungswerk fort. 1959 stellte eine internationale Juristenkommission fest, daß in Kham über 250
    Klöster und Siedlungen zerstört worden waren. Gegen die Flugangriffe waren wir machtlos. Doch wir sprengten Straßen und Brücken, um die Truppenverbände aufzuhalten. Südlich von Batang begannen die Waffenlieferungen aus Taiwan regelmäßig einzutreffen. Die Fallschirme, die ihre Lasten abwarfen, vermittelten uns zugleich das trügerische Gefühl, wir hätten draußen in der Welt

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