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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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einsam ein kleines Feuer brannte. Chen Wenyuan ging auf eine Gestalt zu, die reglos in der Dunkelheit stand. Nein, sie stand nicht. Sie hing an einem Holzgestell, das man in den Boden gerammt hatte. Unter der Gestalt schwelte das Feuer. Chen Wenyuan bückte sich, nahm einen Stock und schürte die Glut. Die Flamme wehte hoch. Die Gestalt zuckte in ihren Fesseln. Das Feuer beleuchtete sie.
    Mein Herz setzte aus. Es war Shelo.
    Wie oft man sie vergewaltigt hatte, werde ich nie erfahren. Sie war bis zu den Hüften entblößt und blutverschmiert. Als Chen Wenyuan in die Flammen stocherte, warf sie den Kopf auf die Seite. Ihr Mund öffnete sich, doch sie gab keinen Laut von sich. Nur ein dicker Blutklumpen quoll zwischen ihren Lippen hervor: man hatte ihr die Zunge herausgeschnitten. Chen Wenyuan lachte glucksend und berührte ihre Beine mit dem Stock. Die Beine zuckten. Da sah ich, daß ihre Füße im Feuer hingen. Das eine Bein war bis zum Knie hinauf verbrannt, die Knochen lagen bloß. An dem anderen hingen noch ein paar Muskelfetzen, an denen Chen Wenyuan nun herumstocherte, als wollte er prüfen, ob das Fleisch gar war.
    Was ich damals empfunden habe, weiß ich nicht mehr. Ich wollte schreien, würgte aber jeden Laut hinunter. Ich wußte, daß ich nur einen Pfeil hatte: einen Pfeil, um Shelo zu töten. Und gleichzeitig wußte ich, daß ich diesen letzten Pfeil nicht vergeuden durfte. Ich hatte eine Pflicht zu erfüllen – die heiligste auf Erden. Mein ganzer Körper, meine Seele, mein Herz sträubten sich dagegen. Ich kämpfte gegen das Grauen an, ich fürchtete, es werde mich in Stücke reißen, meine Fetzen im Wind verstreuen. Irgendwie aber mußte ich bei Besinnung bleiben. Keiner konnte ihr helfen, wenn nicht ich. Ich atmete die kalte Luft, und mit dem Schmerz, der mir jeder Atemzug verursachte, tat ich mir Gewalt an bis an die Grenze des Todes.
    So bezwang ich mich, obgleich jeder Muskel zitterte und meine Seele im Dunkeln versinken zu wollen schien. Und nach diesem Schmerz hatte ich meine Furcht besiegt und wußte, daß ich handeln konnte.
    Ein klares Auge und eine sichere Hand, das war es, was ich jetzt 327
    brauchte. Ich hörte meinen Atem, während ich vorsichtig den Pfeil zog.
    Der Bogen bebte. Ich mußte meine ganze Kraft aufbieten, bis ich den Pfeil an die Sehne legen konnte. Noch wehrte sich meine Hand, aber ich durfte Shelo nicht warten lassen. Das schuldete ich ihr, als letzten Beweis meiner Liebe. Sie litt seit Stunden. Vielleicht hatte sie meinen Ruf gehört und mich herbeigesehnt, mit der ganzen Kraft ihres starken Herzens. Ich sollte es sein, der ihre Ketten brach, ihr den ewigen Frieden schenkte. In der nächsten Sekunde stand ich aufrecht auf der Mauer, den Bogen im Anschlag, und schrie aus Leibeskräften:
    »Amla, gib mir deinen Segen! «
    Sie zuckte in ihren Fesseln. Ihre Augen wandten sich mir zu; ich sah den Funken, der in ihnen blitzte. Sie neigte mit letzter Kraft den Kopf und warf ihn dann zurück, bot sich als Zielscheibe dar. Für den Bruchteil eines Atemzuges herrschte vollkommene Stille. Es war, als ob alles – die Luft, die Erde, die Menschen und die Sterne – den Atem anhielten. Ich straffte die Schultern, spannte den Bogen. Der gefiederte Pfeil nahm seinen Flug und durchbohrte Shelos Hals. Die Wucht des Einschlags wirbelte sie wie eine Stoffpuppe herum. Ich spürte den Schock wie den Schlag einer Riesenpeitsche. Der dunkle Blutstrahl, der sich über ihre Brust ergoß, war mein eigenes Blut. Ihr letzter Atemzug verband sich mit dem Röcheln in meiner Lunge. Sie drehte sich noch immer, doch ihre Wange war jetzt zur Seite geneigt.
    Sie war ihrer Qualen ledig. Für immer und ewig. Ich jedoch, zu Tode verwundet, spielte mit dem Gedanken, mich fallen zu lassen, mit ihr, in ihren Armen. Aber sie, von allen Wesen meinem Herzen am nächsten, hätte es nicht gewollt.
    Und dann sah ich ihn, den Teufel. Nicht einmal eine Minute war vergangen. Er drehte leicht den Kopf, sah nach links und nach rechts, erkannte meine Gestalt. Unvermittelt zuckten die Muskeln um seinen Mund. Nicht Zorn oder Verblüffung traten in seinen Blick, sondern eine Art von anerkennendem Hohn. Seine Zähne blitzten jäh auf, und dann nickte er mir zu, als wollte er sagen: »Gut gespielt, Junge!«.
    Und klatschte ironisch Beifall.
    Der Haß, der in mir brodelte, schien der Haß der Erde selbst zu sein; der Haß der verwüsteten, gepeinigten Erde Tibets. Ich kreischte wie ein Falke: »Bastard! Verfluchter! Fang mich doch,

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