Die Tibeterin
sich alte Schriftrollen. Tsultrim Rimpoche, unser Gastgeber, war ein bedeutender Lama, der hier vor den Verfolgungen Zuflucht gefunden hatte. Ich kauerte stumm und zerlumpt hinter einigen älteren Mönchen, von Ehrfurcht ergriffen.
Denn die hier versammelten Häuptlinge waren die bedeutendsten ihrer Zeit. Jeder dieser Männer führte zwei oder drei Dutzend Sippen an, die ihrerseits einem Clanführer unterstellt waren. Ihre Kleider waren von ausgesuchter Kostbarkeit, ihre Kappen aus Marder oder Luchs, und die bestickten Schaftstiefel mit den stumpfen Sporen reichten ihnen bis über die Knie. Alle trugen Gewehre und Maschinenpistolen. Ihre mit Edelsteinen geschmückten Kurzsäbel hingen an der Hüfte, die Dolche an einem Riemen am Halsausschnitt.
Tsultrim Rimpoche hieß seine Gäste willkommen und eröffnete die Ratssitzung mit einigen schlichten, kummervollen Worten.
»Die Chinesen sind wie ein großer See um uns herum, und die Tibeter sind ein Eiland in der Mitte der Fluten. Wenn wir nicht an unsere Götter glauben, werden wir überspült und fortgeschwemmt. «
Asuktsang erhob sich, und ihn begrüßte die Stille der Anerkennung, die mächtigen Kämpfern zugestanden wird. Doch bei seinen ersten Worten ging ein Raunen durch die Menge. Ich spürte, wie sich meine Haare vor Erregung sträubten. Denn Asuktsang war im Begriff, die Hölle mobilzumachen und ein Pulverfaß darunter zu entzünden.
Für die Khampas war die Situation nie günstiger gewesen. Die chinesische Repressionspolitik hatte die sprichwörtliche Geduld der Bevölkerung aufgebracht. Nach siebenjähriger Besatzung kontrollierten die Chinesen nur einen geringen Teil des Landes. Es gab zu dieser Zeit bloß drei Straßen, die die Hochebene Tibets durchquerten – ein Gebiet, fast so groß wie Europa. Die Chinesen mochten eine ganze Kette von Forts dort entlang bauen, ihre Garnisonen waren leicht einzunehmen. Ihre Truppen kannten Maos Sprüche auswendig, aber Mao sagte nicht, was zu tun war, wenn zweihundert berittene Krieger eine Kaserne belagern, in der ein paar Soldaten in ihren Baumwollstrümpfen schlotterten.
Flugzeugangriffe – wie ich sie in Lithang erlebt hatte - waren nur gegen größere Städte einsetzbar, und daher verschanzte sich keine Khampafamilie mehr hinter Stadtmauern. Drohte Gefahr, erfuhren es die Sippen durch Rauchzeichen und Spiegelsignale. Die Krieger 338
schwärmten aus, um den Angriff der Chinesen abzufangen; die Frauen und Kinder brachen eilig die Jurten ab und ritten davon.
Innerhalb einer Stunde war ein Lager aufgelöst, spurlos in der Weite der Landschaft verschwunden.
Asuktsang erwähnte die Erdrutsche, die seit ein paar Tagen die große Kangting-Chamdo-Lhasastraße an mehreren Stellen unbefahrbar machten. Jede Truppenverstärkung war unterbunden.
Außerdem konnten die Chinesen keine Verpflegung herbeischaffen.
Asuktsangs Worte gingen in Gelächter unter. Jeder wußte, daß die Chinesen die tibetische Nahrung nicht vertrugen. Unsere Nahrungsgrundlage bildete die Gerste, aus der wir Tsampa gewannen. Die Chinesen wollten die Gerste durch Weizen ersetzen.
Im tibetischen Klima jedoch erfror der Weiten bereits vor der Ernte.
»Ihre Krankheit liegt in dem Glauben, daß ihre Panzer uns einschüchtern können«, rief hochmütig der Jüngste der Brüder Andrutsing. Asuktsang sprach sehr sachlich. Wollten wir die Chinesen endgültig vertreiben, mußten wir Lhasa einnehmen. Seine Heiligkeit, diese noch jugendliche, aber große Persönlichkeit, durfte nicht länger als Geisel dunkler Machenschaften mißbraucht werden.
Asuktsang schien es an der Zeit, gegen das Hauptquartier in Lhasa offensiv zu werden, da sich in der Hauptstadt bereits Tausende von Flüchtlingen aus Kham und Amdo eingefunden hatten. Man würde dort Verbündete finden. Asuktsang besaß jene eigentümliche Kombination von Mut und Instinkt, die gefährliche Glücksspieler und brillante Strategen gemeinsam haben. Seine Wahrnehmung war richtig, sein Plan gut ausgereift. Wollten wir die Hauptstadt einkreisen, mußte zuerst der Loka – die Kornkammer Tibets -
eingenommen werden. Von dieser Provinz aus führten zahlreiche Bergpfade nach Bhutan und in den Nordosten Indiens. Über diese Grenzen trafen regelmäßig die Waffenlieferungen der Gebrüder Pangda ein. Und in dieser Provinz war auch der Kern der Volksbefreiungsarmee stationiert.
»Jagen wir die Chinesen aus Loka«, sagte Asuktsang, »ist das Spiel halb gewonnen. Die Bevölkerung wird uns unterstützen. Und wenn
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