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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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keuchte ich. »Yu! Wo bist du?«
    Alles war in dunkles Grau getaucht. Schneeflocken fielen. Ich schob meine steifen Finger in den Mund, pfiff mit letzter, ersterbender Kraft. Der Pfiff zerriß mir fast die Kehle. Ich verspürte einen eisigen Hauch, und der Leitbulle trat aus der Dunkelheit, weiß schimmernd und gewaltig, wie ich ihn im Traum gesehen hatte. In seinen Augen schimmerte der helle Bogen des Himmels. Sein Antlitz war das eines Fürsten, langgehörnt und fruchteinflößend, breitstirnig und edel. Er kam ganz nahe und beschnupperte mich. Er wußte, wer ich war. Seine Gefühle für mich kamen wohl aus den verborgensten Winkeln der Erinnerung, warm und vertraut wie die ersten Laute, Berührungen und Geräusche des Lebens. Ein Kiesel löste sich unter schweren Sohlen. Der Leitbulle schüttelte den Kopf und brummte.
    Durch die Ausstrahlungen meines Körpers, dessen Regungen er von Geburt an kannte, spürte der Leitbulle, daß ich Angst hatte, und daß der Feind ganz nahe war. Vielleicht hatte er auch zwischen den Felsen das Metall einer Waffe blinken sehen. Ein Knurren erschütterte seine Flanken, so mächtig, als sei es der Berg selbst, der grollte. Er schwang den Schweif. Der mächtige Kopf senkte sich, und nur die Hörner verharrten aufrecht wie Säbel. Als er angriff, war es wie eine Explosion. Der stampfende Körper brach über die Bergflanke wie eine Lawine. Das war das Ende der Jagd. Der 331
    Verfolger hatte es auf einmal begriffen. Er riß seine Maschinenpistole hoch, feuerte zweimal aus nächster Nähe. Die Kugeln streiften die Flanken des Tieres. Rotes Blut spritzte. Die Wunden reizten den Leitbullen, wie der Stich einer Hornisse ihn gereizt hätte. Chen Wenyuan versuchte zu fliehen, glitt im Schnee aus, stolperte. Das brüllende Tier war schon über ihm, senkte den Kopf und stieß zu. Ich sah den Chinesen in der Luft hängen, auf beide Hörner aufgespießt, die ihm den Leib oberhalb des Gürtels durchbohrt hatten. Chen Wenyuan schrie, verrenkte sich im Todeskampf. Der Leitbulle donnerte den Hang hinab und trug ihn auf seinen Hörnern. Er setzte in Sprüngen über den Schnee, schleuderte sein Opfer gegen den Felsen, rieb und zerschmetterte es an Baumstämmen. Nach einer Weile erstarb das qualvolle Brüllen, doch in der Ferne gellten andere Schreie: Die Soldaten flohen in kopfloser Panik. Ich schickte ihnen ein gellendes Triumphgeheul hinterher, ehe ich, von Brechreiz geschüttelt, auf den frostigen Boden fiel. Ich keuchte und würgte. Und während die Herde langsam an mir vorbeizog, stieg heftiges, unbeherrschtes Schluchzen in mir hoch. Es waren die letzten Tränen, die ich in meinem Leben vergießen würde. Und als ich – lange Zeit später – mein Gesicht hob, hatten sich die Nebel gelichtet, und ich sah jenseits des Kammes die brandgeschwärzten Ruinen.
    Am stahlgrauen Himmel verblaßten die Sterne. Nur über den Trümmern hing wie eine gewitterschwarze Wolke der Rauch. Ich sah die Gräben und Schanzen der Chinesen, die Panzer, die Fahrzeuge, die blutroten Banner. Unsere Ahnen hatten die Klosterburg für ihre Nachkommen gebaut, für die Götter, die uns liebten. Jetzt war alles dahin, verschwunden, ausgelöscht. Dort aber, wo einst das Heiligtum gestanden hatte, schimmerte die Statue in purpurner Glut. Wenn der Rauch zur Seite abzog, sah ich sie ganz deutlich. Es war, als ob das Standbild lebte und pulsierte wie ein Riesenherz. Und mir war, als ob das Bild durch den Tränenschleier wuchs, größer und größer wurde. Zitternd vor Fieber sah ich das ruhevolle Antlitz näher schweben, den ganzen Himmel erleuchten. Ich lag, befreit von Fesseln und Furcht, in einem Meer von goldenem Licht. Rings um mich spürte ich eine Kraft, heiter und über alles menschliche Tun erhaben, Ruhe spendend und Trost verheißend.
    So schlief ich ein. Als ich erwachte, war nichts davon geblieben.
    Eine bleigraue Schneefront türmte sich unheilvoll auf. Das helle Morgenlicht war ausgelöscht wie eine schwache Kerzenflamme.
    332
    Hustend, von Fieberschauern geschüttelt, lag ich im verschneiten Gebüsch. Die Kopfschmerzen waren kaum auszuhalten. Die Luft roch nach Asche und Verwesung. Wind, Schnee und Einsamkeit umgaben mich. Ich stemmte mich hoch und entdeckte, daß frischer Schnee die Spuren der Drougs bereits verwischte. Die Fährte war kalt, ohne jeden Geruch. Sie lief über den Hang und verschwand in der grenzenlosen Weite der Hügel. Ich sollte die Herde niemals wiedersehen.«
    333

43. Kapitel

    A tan lehnte sich

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