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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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wenn du kannst! «
    Der Haß riß mich hoch und trug mich wie auf Schwingen. Ich 328
    sprang von der Mauer hinunter, als sei ich schwerelos. Ich landete auf meinen Füßen, richtete mich auf und begann zu laufen. Ich hatte eine Lunte gezündet. Warnrufe gellten, Unteroffiziere brüllten ein Durcheinander von Befehlen, Betrunkene stürzten schläfrig und verwirrt aus den Zelten. Ich hörte die Kugeln pfeifen, schlug einen Haken, war schon zwischen den Lastwagen. Im Schatten jagte ich die Böschung empor, durchbrach das Lager. Eine kurze Strecke offenen Talgrunds lag zwischen dem Camp der Offiziere und dem nächsten Hügel. Den mußte ich erreichen, bevor die Beine unter mir erschlafften. Das Echo der Schüsse verfolgte mich. Eine Nebelschicht hing über dem Tal; ich tauchte darin ein. Jeder Schritt bedeutete nicht nur Raumgewinn, sondern eine erbeutete Spanne Lebenszeit.
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42. Kapitel

    D er Nebel, eiskalt und feucht, glitt an mir vorbei. Ein herber Geruch nach Rauch und Benzin lag in der Luft. Blindlings lief ich dem Hügel entgegen. Hinter mir schlugen Kugeln ein, doch nach den ersten Salven wurde nicht mehr geschossen. Die Soldaten wollten kein Blei verschwenden. Der Nebel schluckte ihre Stimmen. Selbst mein Stolpern, Stürzen, mein wildes Atmen blieben gedämpft. Und plötzlich hoben sich die Schleier, Tal und Himmel wurden klar. Im Osten strömte der erste Schein der Morgendämmerung über das Tal, während die Ausläufer der Hügelkette sich noch in die Dunkelheit duckten. Gegenüber meinen Verfolgern hatte ich einen Vorteil: Die Gegend war mir vertraut wie meine Jurte. Ein Blick über meine Schulter zeigte mir, daß sich nicht mehr als drei Männer durch das Tal bewegten. Man hatte es offenbar für sinnlos gehalten, die ganze Abteilung Soldaten auf ein ausgehungertes Nomadenkind zu hetzen.
    Eine der Gestalten erkannte ich trotz der Entfernung an ihrem Gang.
    Nachträglich habe ich mich oft gefragt, was Chen Wenyuan wohl veranlaßt hatte, selbst auf die Pirsch zu gehen, anstatt seine Männer zu schicken. Ich weiß es bis heute nicht. Er mochte es als Vergnügen angesehen haben. Ich indessen lief weitern, bis die Beine unter mir erschlafften. Alles an mir war eiskalt: die durch Schweiß und Schnee naßgewordenen Kleider, jeder Finger, die Knochen, die schmerzenden Gelenke. Ich wandte mich kurz um: Die Männer holten auf. Der Schein ihrer Taschenlampen kam näher. Dann wehte wieder ein Nebelschleier vorbei; ich sah einige Sekunden lang überhaupt nichts mehr. Meine Füße waren bleischwer, Funken flackerten vor meinen Augen, und ich prallte gegen einen Fichtenstamm. Ich hielt mich daran fest, zu Tode erschöpft. Ein paar Augenblicke verstrichen. Dann wandte ich den Kopf, und kaum dreißig Sekunden später schlug mir der Geruch entgegen. Und jetzt jagte nicht mehr die Angst, sondern ein Gefühl des Triumphes Schauer über meine klamme Haut. Nur wilde Yaks, deren Körper warm sind vom Laufen, senden diese mächtige Witterung aus. Nie werde ich wissen, warum Yu in diesem Winter seine Hochweiden verlassen hatte. Ich nehme an, daß die tieffliegenden chinesischen Staffeln ihn beunruhigt hatten. Yu war im Flackern der Blitze zur Welt gekommen. Bei den Menschen hatte er Wärme und Nahrung gefunden. Der Leitbulle hatte es nicht vergessen. Ein Instinkt mußte 330
    ihn dazu getrieben haben, seine Herde schutzsuchend in unsere Nähe zu bringen. So jedenfalls erkläre ich die Dinge heute. Damals aber steckte ich einfach zwei Finger in den Mund, pfiff aus heiserer Kehle. In der Stille der ersten Morgenstunden schrillte der Pfiff weithin. Auch Chen Wenyuan sollte ihn hören.
    Er antwortete mit vergnügtem Gelächter. Unentwegt kletterte ich höher, lockte ihn weiter. An der Schneegrenze verstärkte sich der Wind. Mein Atem gefror stoßweise, aber Chen Wenyuan blieb mir auf den Fersen. Er war an das Höhenklima gewöhnt und hielt gut durch, während seine Begleiter zurückfielen. Ich jedoch war fast am Ziel. Ich spürte es im Vibrieren der Luft, im unmerklichen Beben der Erde. Die leisen Geräusche, das Schnaufen und Grunzen auf der Bergflanke waren mir vertraut. Und als sich die Nebel teilten und die Drongs paarweise oder in Gruppen erschienen, da schluchzte ich auf vor Freude und zugleich in jähem Schmerz. Die Tiere, über den Kamm verstreut, blickten in gespannter Aufmerksamkeit talabwärts.
    Trotz ihrer Unruhe standen sie still. Ihre buschigen Schwänze bewegten sich, ihre Nüstern zogen die Witterung ein.
    »Yu!«

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