Die Tibeterin
Verbündete. Die Volksarmee rächte sich an der Bevölkerung.
Zwischen 1956 und 1957 wurden über viertausend Menschen gefoltert und umgebracht. Viele Säuglinge wurden gleich nach der Geburt ihren Müttern weggenommen und nach China gebracht. Die Chinesen sagten, daß Elter mit feudalistischer Überzeugung ihre Kinder niemals in fortschrittlicher Weise erziehen könnten.
Außerdem würden die Babies die Eltern bei der Arbeit stören.
Gerechterweise muß gesagt werden, daß nicht alle Chinesen solche Greueltaten billigten. 1956 desertierten über viertausend Soldaten, flohen durch die Mongolei und baten in der Sowjetunion um Asyl. In China selbst brachen zahlreiche Unruhen aus. Von diesen Ereignissen wußte man im Westen nur wenig. Die USA und Großbritannien verhängten eine Nachrichtensperre, und die duldsame Haltung Nehrus in dem Konflikt zeigte deutlich, wo die Interessen Indiens lagen. Die Augen Europas richteten sich auf Ungarn, wo gerade der Aufstand ausgebrochen war.
Daß die Großgrundbesitzer und Aristokraten Lhasas sieben Jahre lang mit den Kommunisten in scheinbarer Harmonie lebten, mag unglaublich klingen. Und doch war es so. Die tibetischen Adeligen pflegten einen aufwendigen Lebensstil und waren – im wahrsten Sinne des Wortes – Kosmopoliten. Die warme Jahreszeit verbrachten sie in ihren Landhäusern, unternahmen Ausflüge und badeten in den Seen, was in den heißen Monaten als glücksbringend galt. Sie fuhren zum Einkaufen nach Neu Delhi, besuchten Freunde in Kathmandu, ließen ihre Töchter und Söhne in Indien oder Großbritannien erziehen.
Die Chinesen waren überall, aber die Adligen dachten an ihr Vergnügen, an galante Abenteuer. Die Chinesen predigten Moral und Genügsamkeit, die Aristokraten tanzten Chachacha. Ihre Zeit war abgelaufen – sie erkannten es nicht. Das Problem war, daß unter den Adligen zwei Ansichten herrschten: Die einen glaubten, daß es am besten wäre, mit den Chinesen so gut wie möglich 336
auszukommen, die anderen wollten sie sofort aus dem Land jagen.
Das wäre mit einem gut ausgekugelten Angriffsplan möglich gewesen. Das murrende Volk war kampfbereit. Die entsetzlichen Geschichten, die die Flüchtlinge aus Kham und Amdo zu berichten wußten, verbreiteten Trauer und Schrecken in der Bevölkerung. Aber niemand traf im richtigen Augenblick die richtige Entscheidung, während die Chinesen eine ausgeklügelte Strategie verfolgten. Sie legten es darauf an, das Ansehen Seiner Heiligkeit zu schmälern, die Befugnisse der Regierung zu verringern, die versprochene Autonomie einzuschränken. Das war die chinesische Art. Reichten wir ihnen den kleinen Finger, packten sie die ganze Hand, rissen uns mit Haut und Haaren in ihr ideologisches Paradies.
Seine Heiligkeit war knapp über fünfundzwanzig Jahre alt, ein meditativer und sanftmütiger Mensch. Erst allmählich wurde ihm klar, daß seine gutgläubige Offenheit mißbraucht wurde. Die Schreckensnachrichten aus Kham erfüllten ihn mit Entsetzten und Trauer. Seine Minister unternahmen nichts oder kaum etwas, um den Greueltaten ein Ende zu setzen. Sie hatten Angst, daß die Chinesen ihre Güter beschlagnahmen würden. Und so lud sich der Adel Lhasas einen Teil der Schuld auf die brokatbehängten Schultern, daß Tibet zum Land der Tränen wurde.
In dieser Zeit kämpften die Rebellen unter der Leitung von Asuktsang, einem der Gründer der freiwilligen nationalen Verteidigungsarmee (NVDA), die bereits über 80.000
Guerillakrieger, vorwiegend Khampas, verfügte. Aber auch Bauern und Mönche hatten sich den Rebellen angeschlossen. Ich wurde fünfzehn und kam damit in das Alter, in dem ich ausgesuchten Kämpfergruppen – den Khelenpa – beitreten konnte.
Asuktsang war ein hochgewachsener Mann mit breiten Schultern und dem hartknochigen Gesicht der Steppenreiter. Sein blauschwarzes Haar war zu einem Zopf aufgesteckt. Über seine Schläfe lief eine tiefe Narbe, eine Erinnerung an seinen Kampf mit chinesischen Opiumschmugglern in der Wüste von Kukunor. Er galt als ebenso verschlagen wie redegewandt, polemisierte mit Genuß und überlegte eiskalt.
Eine Ratssitzung ist mir besonders in Erinnerung, weil sie das Schicksal Tibets entscheidend beeinflußte.
Die Sitzung fand in einer Einsiedelei in der Nähe von Batang statt, im Schein flackernder Kerzen. Es war ausgesprochen kalt, der scharfe Wind hatte die Gebetsfahnen draußen zerrissen. Die Wände 337
waren von Ruß und Feuchtigkeit verdunkelt. Auf einem Regal stapelten
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