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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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zu herzzerreißenden Abschiedsszenen. Das Ziel war meistens Dharamsala, der heilige Ort, an dem Seine Heiligkeit lebte. Die Eltern sparten sich jeden Bissen vom Munde ab, aber den Kindern gaben sie Geschenke mit. Für ihn. Es war ihnen ein Trost, sie in seiner Obhut zu wissen.
    Die Zeit des Selbstmitleids war vorbei. Ich verschrieb mich keiner höheren Idee, von höheren Ideen hatte ich die Nase voll. Ich wollte mit den Geistern Frieden schließen, im Schatten ihrer Schwingen ruhen. Ich wollte mich nicht mehr an Panzern messen, sondern an meinen Träumen. Träume sind die Realität von morgen, die Quellen, aus denen wir Kraft schöpfen. Tibet braucht Träume, sonst wird es nicht überleben.
    Es war für mich nicht schwer, von Alkohol und Drogen loszukommen. Ich mußte nur den Willen aufbringen.
    Unser Netz war dicht geknüpft; wie vielen Menschen wir eine Verhaftung ersparten, kann ich nicht sagen. Einer unserer Agenten war eine Frau. Sie hatte Verbindungen zum Gong An Ju, und ihre 367
    Nachrichten waren zuverlässig. Man hatte mir gesagt, daß sie in einem Bordell arbeitete, wo Sicherheitsbeamte verkehrten. Sie ging ein großes Risiko ein; ich bewunderte ihren Mut und wollte sie sehen.
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47. Kapitel

    L hasa war eine graue Stadt unter einem dichten Netz von Elektrizitäts- und Telefonleitungen geworden. Man hatte Laternen aufgestellt, die nie brannten, und Bäume gepflanzt, die nie grünten.
    Wohnblöcke stießen in die alte Stadt hinein, die Betonbrandung des sozialistischen Größenwahns warf hohe Wellen. Alles war schwülstig, überdimensional, seelenlos. Viele alte Häuser standen leer; unsichtbare Blutströme flossen in den zugemauerten Räumen.
    In den Höfen häufte sich Unrat. Den Linkhor krochen zerlumpte Pilger entlang. Lastwagen donnerten vorbei. Manchmal spuckten Radfahrer auf die kriechenden Gestalten; sie merkten es nicht, ihre glänzenden Augen sahen nur das Jenseits. Sie gehörten zum Stadtbild, die Behörden duldeten sie.
    Lhasa wirkte zweckmäßig und modern auf den ersten Blick; auf den zweiten sah man den Verfall; Armut und Elend lauerten unter der grauen Tünche. Auch mit Schnaps und Geschlechtskrankheiten kann man ein Volk zugrunde richten, es bettelarm machen, ihm den Lebensmut nehmen. Einige »patriotische« Adlige hatten überlebt, bekleideten gute Stellen in der chinesischen Verwaltung. Manche nützten das System, sich persönlich zu bereichern; die meisten jedoch betrieben im Stillen eine vorsichtige Gratwanderung. Sie erwirkten Konzessionen, taten nicht immer, was sie tun sollten, spielten oft ein gefährliches Spiel. In Lhasa gab es jede Menge Läden, Restaurants und Cafés, ein Theater und einen geheizten Swimmingpool. Die meisten tibetischen Familien lebten in einer
    »Arbeitseinheit«, schöpften Wasser aus einer gemeinsamen Pumpe und benutzten Gemeinschaftslatrinen. Der Potala, frisch getüncht, leuchtete hell unter Quellwolken oder schwebte im Nebel. Die vergoldeten Symbole des Buddhismus glänzten. Heiligtümer und Vorzeigeklöster zogen devisenbringende Touristen an. Später, in ihr jeweiliges Land zurückgekehrt, würden die Touristen berichten, sie hätten mit eigenen Augen gesehen, daß die Chinesen den Tibetern die freie Ausübung ihrer Religion gestatteten. Die Touristen sollten den Eindruck gewinnen, daß die Chinesen wohl einige Fehler machten – welche Nation macht sie nicht? – aber durchaus redlich Selbstkritik übten. Fremdenführer gaben bereitwillig zu, daß manches geschehen sein mochte, was übertrieben und grausam war.
    China hat Tibet aus dem Mittelalter in das zwanzigste Jahrhundert 369
    geführt! Seht doch, wie modern und sauber die Stadt ist, wie die Mönche ihre schönen alten Bräuche pflegen, wie die Kinder wohlgenährt und die Alten glücklich sind. Ja, aber was war mit den vielen Lumpensammlern, den betrunkenen Bettlern, den spindeldürren Kindern draußen auf dem Land? »Bitte, habt Geduld mit uns«, antworteten höflich die Dolmetscher. »Tibet ist ein flächenmäßig riesiges und dünnbesiedeltes Land. Wir können nicht alle Teile der Bevölkerung gleichzeitig zum Wohlstand führen.
    Ungleichheiten bestehen zwangsläufig, sie werden auch noch eine Generation lang andauern, aber dann ist die Armut ausgerottet, und für alle scheint das Morgenrot.« Die Rhethorik kam an. Die Touristen hörten zu, nickten, zeigten sich beeindruckt. Manche – die Aufgeklärten – lächelten skeptisch. Die Fremdenführer behielten sie im Auge. Das chinesische

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