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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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nur halbherzig.
    »Ich bin ziemlich durcheinander, entschuldige.«
    Irgendein Instinkt in mir hatte ihn sofort erkannt. Seine Erscheinung im Lager hatte ein merkwürdiges Gefühl in mir ausgelöst, einen leichten Schwindel, als habe sich mein Puls plötzlich beschleunigt. Er war mir vertraut gewesen wie ein Freund aus der Kindheit, wie irgendeine Bekanntschaft aus längst vergangenen Zeiten. Er hatte seine Rolle gespielt in meinem Leben.
    Es war Atans Bild, das mein Vater noch immer in seinen Augen trug.
    »Mein Vater hat dich niemals vergessen« sagte ich. »Ich denke auch, daß dieser Vorfall ihn veranlaßt hat, Tibet zu verlassen. Vater war nie ein tatkräftiger Mann, nicht im geringsten praktisch veranlagt.
    Meine Mutter regte sich darüber auf. Sie sagte immer, auf Tashi ist kein Verlaß.«
    »Dein Vater ist ein Träumer.«
    Atan wiederholte die Worte, die er Tage zuvor gesagte hatte. Ich seufzte.
    »Vielleicht warst du der Mann, der er sein wollte. Ein Idealbild, verstehst du? Es ist eigentlich unglaublich! Er hat dich ständig gesucht und dich irgendwann gefunden.«
    Er nickte ruhig. »Er hat seinen Geist wandern lassen. Es gibt Menschen, die das können.«
    »Es geht um Chodonla«, sagte ich, sehr erregt. »Er gibt sich die Schuld, daß alles so gekommen ist. Und jetzt ist Chodonla in Not.
    Du hast sie früher schon einmal gerettet. Er hat dich gerufen. Anders kann ich es nicht erklären.«
    »Einst«, sagte er dumpf »waren mir Geheimnisse vertraut. Ich war in meinem Herzen überzeugt, daß die Geister mich liebten. Nachher lebte ich weiter und hatte nur Steine als Kissen. Doch was die Geister aufbewahrten, ist nicht verloren. Das Geheimnis ist wieder da. Es war kein Zufall, daß unsere Wege sich kreuzten… «
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    Ich flüsterte:
    »Mir ist so bange um Chodonla. Jeder Tag bringt mich näher zu ihr. Und gleichzeitig habe ich das Gefühl, daß ich ihr nicht mehr helfen kann. Daß sie sich mit jedem Atemzug weiter entfernt. Sag, Atan, wie hast du sie gefunden? Nach so vielen Jahren… «
    »Es waren schlimme Jahre.« Mit einem Seufzer lehnte er den Kopf an die Wand. »Tibet kannte weder Sonne noch Mond, weder Sommer noch Winter. Wie kann man leben, wenn das Leben selbst ein Verbrechen ist? Massenhinrichtungen. Zwangsarbeit.
    Hungersnot. Die Chinesen teilten das Land in Volkskommunen auf.
    Sie bestimmten, wieviel Vieh eine Nomadenfamilie besitzen, wann ein Tier geschlachtet werden durfte. Man brauchte eine Genehmigung, um Holz und Yakdung zu sammeln. Es war verboten, sich außerhalb des Hauses oder Feldes frei zu bewegen; verboten, einen kranken Verwandten zu besuchen. Ein Großteil jeder Ernte war für die Armee bestimmt. Die Tibeter aßen Wurzeln, Gräser und Baumrinden. Inzwischen führten die Chinesen immer mehr Panzer und Fahrzeuge ein. Sie fühlten sich von Indien bedroht. Die übliche Paranoia. Alle strategischen Grenzen zum Himalaya wurden überwacht. Die Chinesen gaben Unsummen aus, um geheime Flugbasen, unterirdische Bunker, Raketenabschußrampen und Versorgungsdepots zu bauen. Tibet wurde zur chinesischen Festung; jede Familie wurde überwacht.
    Bis Ende der sechziger Jahre hatten uns die USA unterstützt. Die Khelenpa konnten mit guten Waffen vom benachbarten Mustang aus operieren. Gleichzeitig befürworteten die USA die UNO-Resolution, die sich für die »Achtung der fundamentalen Menschenrechte des tibetischen Volkes« einsetzte. Aber unsere Exilregierung bestand auf Tibets Recht auf Unabhängigkeit und sorgte im Konzert der Nationen für Mißtöne, die man mit Rücksicht auf China gedämpft zu halten versuchte. Dann veränderte sich die Lage, leider nicht zu unseren Gunsten. Zu Beginn der siebziger Jahre beendete die CIA ihr aktives Engagement in der Tibetfrage – gerade zu der Zeit, da über 150.000 chinesische Soldaten das Land besetzten. Und es sollte noch schlimmer kommen: 1971 unterstützte die USA die Aufnahme des kommunistischen China in die Vereinten Nationen. Ein Jahr später setzte Präsident Nixon auf die »chinesische Karte« und kehrte das Schicksal Tibets unter den Teppich. Die CIA entzog uns ihre kärgliche Unterstützung, und die Chinesen übten vermehrt Druck auf die Nachbarländer aus. Nepalesische Truppen griffen unser Lager in 363
    Mustang an. Wir hätten sie zurückschlagen können. Wir waren kampferprobt, hatten nichts mehr zu verlieren. Da traf ein Tonband mit einer zwanzigminütigen Botschaft Seiner Heiligkeit ein. Er bat uns, an die zwölftausend tibetischen

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