Die Tibeterin
Kochnische. Aber in Lhasa herrschte Wassermangel und chronischer Stromausfall, so daß die ganze Herrlichkeit nicht viel nützte. Der Boden war mit Linoleum ausgelegt, die wenigen Möbel waren nach chinesischem Geschmack aus Kunststoff gefertigt. An den Wänden hingen Drucke, Spielzeug lag herum. In der Kochnische stapelte sich schmutziges Geschirr. Einen Hausaltar gab es nicht, aber vor einem Rollbild billiger Machart stand eine kleine Butterlampe, in einem Gefäß, das alt und schön war. Chodonla entzündete die Lampe, und eine winzige Flamme züngelte neugierig hierhin und dorthin, gleichsam freudig, daß man sie geweckt hatte. Inzwischen ließ Chodonla ihre Daunenjacke von den Schultern gleiten und zog ihre Mütze aus der Stirn. Ihr rabenschwarzes Haar fiel bis zu den Hüften hinab.
»Bier?« fragte sie.
Ich nickte.
»Setz dich«, sagte sie.
Ich zog in der Tür meine Stiefel aus, wickelte meinen Fellmantel um die Taille und zog mir einen Stuhl heran. Chodonla kam mit einer Flasche zurück, goß ein und reichte mir das Glas.
»Ich weiß, wer du bist. Man spricht oft von dir.«
Ich stütze mich auf den Ellbogen.
»Was sagt man denn?«
»Daß du ein großer Kämpfer bist.«
Ich lächelte über den volkstümlichen Ausdruck, den sie benutzte.
»In eigener Sache ist man kein Held.«
Sie sagte ganz kindlich:
»Du siehst jünger aus, als ich mir dich vorgestellt hatte.«
»Bist du schon lange dabei?« fragte ich.
Ihr Gesicht wurde hart.
»Seit dem Tod meines Mannes.«
374
Ich betrachtete ihr Profil, die schmale Nase, den leidenden Mund.
»Du bist traurig«, sagte ich.
Sie schüttelte heftig den Kopf.
»Ich bin nicht traurig.«
»Ich kann verstehen, daß du es bist«, sagte ich.
Sie wandte den Kopf ab und hustete.
»Sie haben ihn verhaftet.«
»Ach darum… «
»Der Krieg wird für mich nie aufhören.«
»Der Krieg hört für Leute wie uns nie auf«, sagte ich.
Sie nahm einen großen Schluck, wischte mit dem Handrücken über den Mund.
»Sie kommen nachts, hast du das gewußt? Ich lasse immer das Licht an. Eine Gewohnheit von mir. Hinter der Tür schläft mein Kind. Ich will nicht, daß sie im Dunkeln kommen.«
»Dein Freund« fragte ich, »was treibt er so?«
»Er ist Ingenieur und arbeitet auf einer Baustelle. Er heißt Sun Li.«
Die Chinesen leiden unter Bauwut. Sie verwirklichen alle Pläne: Kraftwerke, Straßen, Brücken, Flugplätze. Sie ruinieren dieses Land, ein Raubbau ohne Ende.
Ich brauchte Informationen für das, was ich vorhatte. Aber ich stellte keine Fragen. Später, dachte ich. Nicht jetzt.
Statt dessen sagte ich:
»Das alles muß schwer für dich sein.«
Sie verneinte mit einer Art müder Überheblichkeit.
»Ich weiß Dinge, von denen die Leute im allgemeinen nichts wissen. Wenn die Beamten frei haben, kommen sie und bleiben die ganze Nacht. Sie spielen Fantan mit hohen Einsätzen. Sie schlafen sehr wenig; sie trinken und reden über sich selbst.«
Sie zwinkerte mir plötzlich zu. »Ich trinke mit ihnen um die Wette.
Schnaps vertrage ich ganz gut, weißt du?«
»Ja, das habe ich bemerkt.«
»Man muß nur mit ihnen trinken, lächeln und gut zuhören. Das ist alles.«
Ich betrachtete diese junge Frau, die hart war wie Kristall und zart wie eine Jasminblüte. Wer war sie? Wer war sie wirklich?
»Du hörst gut zu«, sagte ich. »Du hast vielen Menschen das Leben gerettet.«
Sie hob jetzt ihre Stimme; ihr Gesicht wurde plötzlich hart.
»Sie werden verhaftet, in eine Zelle gesperrt. Sie wissen nicht, wie 375
es ist, bevor sie es nicht selbst erlebt haben. Viele werden abtransportiert. Ich habe das oft erlebt, wenn ich sie nicht schnell genug warnen konnte. Und nie wieder kommt die geringste Nachricht von ihnen, nie das geringste Lebenszeichen, nie.«
Sie nahm einen Schluck. Ihre Zähne schlugen an das Glas. Sie sagte leise:
»Am Anfang traute man mir nicht.«
Ich nickte.
»Das kann ich mir denken.«
Leise, im Ton eines Geständnisses, sagte sie:
»Ich weiß wohl, daß die Männer auf der ganzen Welt über das, was ich tue, einhelliger Meinung sind.«
»Mönche allemal«, sagte ich. »Wenn es Tag wird, früh morgens, denken sie jedesmal an eine Frau, und es ist keine da.«
Sie verkniff sich ein Lächeln.
»Zuerst wußten sie nicht, was sie von mir halten sollten. Sie sagten nicht, wir brauchen Sie nicht. Sie sagten: Das Risiko ist zu groß. Ich meinte: Ich habe keine Angst vorm Sterben. In der ersten Zeit haben sie mir nicht geglaubt.«
»Und
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