Die Tibeterin
Flüchtlinge in Nepal zu denken.
Es bestand die Gefahr, daß sie an China ausgeliefert wurden. Er erinnerte uns daran, daß Blutvergießen und Gewalt zu nichts führen als zu immer größerem Leid. Er bat uns, die Waffen niederzulegen.
Dafür versprachen uns die Nepalesen, daß sie ihre Truppen zurückziehen würden.
Für uns brach eine Welt zusammen. Wir hatten gekämpft und gelitten, unsere Familien aufgegeben oder verloren; es gab keine Stadt in Kham, die nicht ein Ruinenfeld war. Wir, die wir zwei Jahrzehnte lang die Volksbefreiungsarmee in Schach gehalten hatten, sollten uns den Nepalesen unterwerfen? Es war das Ende. Viele von uns wählten den Freitod. Sie schossen sich in den Kopf oder schnitten sich die Kehle durch. Andere ergaben sich; und sobald sie ihre Waffen abgeliefert hatten, sahen sie, daß sie in eine Falle getappt waren. Hinter dem Rücken Seiner Heiligkeit hatten China und Nepal ein Abkommen getroffen. Die Nepalesen fielen in die Lager ein, verhafteten alle Anführer und übergaben sie den Chinesen. Nur einigen gelang die Flucht – ich gehörte dazu.
Im September 1976 starb der »Große Steuermann«. Wenige Wochen nach seinem Tod wurden seine Frau Jiang Quing und die
»Viererbande« verhaftet. Sogar China atmete auf. Als der gemäßigte Deng Xiaoping an die Macht kam, schöpfte man Hoffnung in Tibet.
Die neuen Führer wollten den USA beweisen, wie großzügig und fortschrittlich sie sein konnten. Leider stellte Tibet – immerhin ein Viertel des Territoriums der Volksrepublik – lediglich Chinas Hinterhof dar. Die Chinesen hatten alle Rechte – die Tibeter fast keine. Apartheid gab es nicht nur in Südafrika. Da wir diese Ungerechtigkeiten nicht klaglos schluckten, flammte eine Revolte nach der anderen auf. 1977 gelang es uns, einen Konvoi von über hundert Lastwagen der Volksbefreiungsarmee zu überfallen, auszuplündern und in Brand zu stecken. Im Juli des gleichen Jahres zettelten wir in der Umgebung des Kuku-Noor-Sees einen Aufstand an, der selbst hartgesottenen Chinesen das Fürchten lehrte. In dieser Zeit suchte ich immer wieder den Tod; doch der Tod wollte nichts von mir wissen. Keiner ahnte – ich am allerwenigsten - daß nicht mehr die Liebe zur Heimat, sondern allein selbstzerstörerische Verzweiflung meine treibende Kraft war. Indessen, die Chinesen 364
sahen ein, daß sie Osttibet nicht zähmen konnten, und lockerten die Zügel. In Lhasa durften Tibeter wieder auf den geheiligten Pilgerpfaden wandern. Das Verbot, die Nationaltracht zu tragen, wurde aufgehoben. Die Mao-Kleidung hatte ausgedient; man brauchte Devisen und wollte Touristen anlocken. Heiligtümer wurden in aller Eile und mit dürftigem Material wieder aufgebaut; alte Mönche sollten die Kulisse beleben, junge Novizen setzte man als Statisten in die Klöster. Am 10. März 1978 (dem Jahrestag des Aufstandes in Lhasa) forderte Seine Heiligkeit freie Ein- und Ausreise für Tibeter. Immer noch bestrebt, sich in ein gutes Licht zu setzten, erteilten die Führer in Beijin die Genehmigung. Erstmals seit 1959 durften die Tibeter mit ihren geflüchteten Verwandten Briefe wechseln – und sie sogar besuchen.
Eine Zeitlang glaubte ich, daß ich weder Menschen noch Tieren niemals wieder wirkliche Zuneigung würde entgegenbringen können. Die Kämpfe, die Folter, das Gefängnis, ich hatte alles überlebt. Wozu eigentlich? Ich wußte nicht, womit ich meine Tage füllen sollte; ich war noch stark, und vor mir lagen endlose Jahre.
Eine Zeitlang war ich wie betäubt. Meine Aufnahmefähigkeit für billigen Import-Whisky war nahezu unbegrenzt. Es war wohl zuviel, was damals meiner Kinderseele zugemutet worden war; ich zahlte jetzt den Preis, und die Zinsen dazu. Ich lebte von Tag zu Tag, mal mit dieser, mal mit jener Frau. Ein goldfarbenes Gesicht, eine Gestalt auf einem Pferd konnten ein schmerzliches Verlangen in mir erwecken. Hatte ich eine Frau gewonnen, so fesselte sie meine Sinne nie für lange. Ich hätte heiraten sollen. An manchen Tagen war ich halb entschlossen. Ich habe drei Kinder gezeugt, die bei ihren Müttern leben. Aber immer wieder befiel mich diese schreckliche Lähmung. Die Geister sprachen nicht mehr zu mir. Sie hatten mich verworfen, wie ich sie verworfen hatte. Warum sollte ich mich nicht in Kham niederlassen und dort meine Tage beenden? Vor einer Jurte zu sitzen, den Einradtraktoren nachzublicken und zu sehen, wie die Kinder wachsen, mochte einen Mann zufrieden stimmen, doch für mich war es zu spät. Die
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