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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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sich Amla zu mir, schraubte eine Thermoskanne auf und goß Tee ein. Der Tee schmeckte nach Sahne, Mandeln und Fleischbrühe, ein würziges Getränk, das nur meine Mutter so gut mischen konnte. Sie hielt jetzt die Hände im Schoß, betrachtete mich prüfend. Die Art, wie sie den Kopf neigte, war so graziös, wie ich es noch nie bei einem Menschen gesehen hatte. Frauen wie sie, überlegte ich, sind nicht in einer Generation so geworden; sie sind das Ergebnis einer Kultur von kaum ermeßlichem Alter.
    »Was gibt’s?« fragte sie, als sie mich zögern sah.
    Lhamos Eheprobleme hatten wir besprochen. Meine Art war es, die Dinge schnell ans Tageslicht zu bringen. Mir fiel es schwer, behutsam voranzugehen. Ich glaubte nicht, daß Mutter oft an Chodonla dachte. Die Situation ließ sich nicht ändern, daher war es sinnlos, darüber nachzudenken.
    Amla mußte ihre Frage wiederholen, ehe ich reagierte.
    »Du bist verstockt«, bemerkte sie nachsichtig. »So warst du schon als Kind.«
    Ich schüttelte den Kopf und strich ihr über die Hand.
    »Ich bin nicht verstockt, ich bin verwirrt. Oder vielleicht bin ich auch verstockt. Ich denke die ganze Zeit an Chodonla und träume sogar von ihr. Das macht mich nervös.«
    Ein Schatten verdunkelte ihr Gesicht.
    »Seit wann?«
    »Eigentlich seit ich Thubtens Brief gelesen habe. Ich hatte den Inhalt nicht mehr im Kopf, weißt du…«
    Sie starrte vor sich hin. In ihren Augen war das Licht erloschen.
    Schließlich legte sie zwei Finger an die Stirn.
    »Ich muß in meinem früheren Leben etwas Böses getan haben.«
    Ich blieb stumm. Amlas Schmerz sowie ihre Deutung der Ursache waren mir vertraut. Als Tibeterin, im Westen erzogen, vereinte ich verschiedene Wesenszüge in mir. Sie erschienen mir nicht disharmonisch. Mutters Gedanken widersprachen der Rationalität, aber nicht dem tibetischen Glauben. Und normalerweise sprachen wir nicht darüber.
    »Es tut mir leid«, sagte ich.
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    Ihre nächsten Worte verursachten mir Herzklopfen.
    »Das braucht dir nicht leid zu tun. Wir haben alle einen Geist in uns, der uns lenkt.«
    Ich runzelte die Stirn. Das half mir nicht weiter. Amla fuhr fort:
    »Früher hattest du es gerne, wenn ich Geschichten erzählte. Lhamo nicht, die saß lieber vor dem Fernseher.«
    »Ja, ich weiß. Denver und Dallas.«
    Wir lächelten beide, unwillkürlich.
    »Erinnerst du dich noch an die Sage der Götterkönige?« fragte Amla.
    »Sie ist mir ein Begriff.«
    »Es heißt, daß sie nur tagsüber auf Erden weilten. Nachts kehrten sie in den Himmel zurück. Durch ein Seil, ähnlich dem Regenbogen, waren sie mit den Göttern verbunden.«
    Amla sprach ganz prosaisch, wobei sie meinen Vater nicht aus den Augen ließ. Mir fiel auf, daß sie unruhig war.
    »Das ist eine Allegorie«, sagte ich. Sie nickte.
    »Wir alle tragen einen Geist in uns, der uns sagt, was wir zu tun haben. Wir sollten auf ihn hören.«
    »Ja, aber wir stopfen uns lieber Watte in die Ohren.«
    Amla redete genau wie früher, aber ich gab jetzt vorlaute Antworten. Verlegen sah ich weg, doch sie lächelte.
    »Du hast einen freien Willen. Aber du solltest wissen, was richtig und was falsch ist.«
    »Ich weiß es meistens nicht.«
    Sie schwieg. Ich liebte sie von ganzem Herzen, aber es gab Momente wie diesen, da hatte ich ihre Ermahnungen satt. Nach einer Weile sagte sie, daß ihre Schulter schmerze. Das Wetter änderte sich: ihre Arthrose machte sich bemerkbar. »Warte, ich helfe dir.«
    Ich trat hinter sie, lockerte den Kragen ihrer Bluse aus grünem Satin. Sie bewegte sich nicht. Ihre Muskeln fühlten sich steif an.
    Meine Hände wanderten über ihre Schultern, den Nacken empor, forschten behutsam nach dem Sitz des Schmerzes. »Hier, nicht wahr?«
    »Du hast es gefunden!« sagte sie erfreut.
    Mit beiden Daumen drückte ich den obersten Halswirbel. Kein Tasten, sondern harte kleine Schläge, dort, wo die Knochen am empfindlichsten waren.
    Sie seufzte glücklich.
    »Oh, das tut gut! Du nimmst mir die Schmerzen.«
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    »Man muß nur die richtige Stelle finden.«
    Die Haustür ging auf. Tashi klopfte die matschige Erde von den Sohlen, zog seine Schuhe aus und schlüpfte in Pantoffeln. Er ging zur Toilette, wusch sich die Hände, spülte sich den Mund mit frischem Wasser aus, bevor er in die Küche schlurfte. Amla zupfte ihre Bluse zurecht, ordnete den Kragen. Ihre Bewegungen waren wieder ganz locker.
    »Tee, Tashi?«
    Er nickte, ließ sich schwerfällig auf die Eckbank fallen. Ich holte für ihn ein Glas. Amla goß

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