Die Tibeterin
gebildet – überragte das Dach.
Über dem Eingang des Klosters befand sich ein vergoldetes Relief, das ein Rad mit acht Speichen darstellte. Flankiert wurde das Rad von zwei niedergekauerten Gazellen. Die Legende sagt, daß Buddha seine erste Rede im Gazellenhain gehalten hat. Die acht Radspeichen entsprechen dem achtfachen Weg der Erleuchtung, Grundlage der buddhistischen Glaubenswelt. In den Dachfirst war der Name des Klosters in tibetischer Schrift eingraviert: Tscho Khor gôn – Kloster zum Rad der Lehre.
Ich betrat das Institut durch eine Halle, die auch als Unterrichtsraum diente. Die Wände bestanden aus unverputztem Ziegelstein, die Decken aus Beton. Um einen großen hölzernen Tisch standen viele Stühle. Rundherum befanden sich die Mönchszellen, daneben die Küche und der Eßraum. Die Bibliothek 46
lag unter dem Dach, der Kultraum im Untergeschoß. Junge Mönche konnten hier so studieren wie an den großen Staatsklöstern Indiens und Nepals. Das Kloster empfing stets einen großen Zustrom von Besuchern, Tibeter zumeist, aber auch Europäer. An gewissen Feiertagen umschritten alte Tibeter – darunter auch meine Eltern –
das Kloster und ließen ihre Gebetsmühlen kreisen. Da der Zweck des Klosters der Erhaltung der tibetischen Religion und Kultur diente, waren auch westliche Schüler willkommen.
»Aber wenn sie sich über das Leben beklagen, können wir ihnen nicht helfen«, sagte Tenzin, als er mich nach dem Essen in seine Zelle führte. »Wir haben anderes zu tun. Setz dich!«
Die Zelle war farbenfroh und gemütlich. Von dem kleinen Stehbalkon aus konnte man weit über Wälder und Hügel hinausschauen. Am Waldrand flatterten Gebetsfahnen. Während er sprach, schaltete Tenzin einen elektrischen Kocher an, ließ Wasser in einen kleinen Kessel laufen.
»Nicht, daß es ihnen an Strebsamkeit fehlt. Im Gegenteil, sie lernen sehr eifrig und zielgerichtet. Sie sind sehr fromm. Offen gestanden, wir Tibeter sind selten so fromm. Und genau da liegt das Problem. Sie verlassen ihre Überlieferungen wie überlebte Irrtümer und vergessen dabei die Normen, die ihre Seele prägen. Religionen sind dafür da, den Menschen zu stärken, nicht um ihn in Konflikte zu stürzen. Eine Bekehrung mag zu einer angenehmen Selbsttäuschung führen. Und das soll alles sein?«
»Ach«, sagte ich, »das meinen viele.«
Kürzlich hatte Roman verlangt, ich sollte ihm den tibetischen Glauben näherbringen.
»Was versprichst du dir davon?« fragte Terzin mich.
»Welche Frage. Ist es dir unangenehm, darüber zu sprechen?«
»Nein, aber ich möchte wissen, warum dich das interessiert. Du interessierst dich ja sonst nicht für Religionen.«
»Weil ich neugierig bin. Und auch, weil ich mehr über dich wissen möchte.«
Das Merkwürdige war, daß mir gar nicht viel daran lag, über diese Dinge zu sprechen. Ich sagte:
»Unsere Götterbilder sind mit Figuren aus dem griechischen Pantheon vergleichbar; sie stellen gewisse Ideale dar, erfüllen besondere Funktionen. Bei uns ist der Mensch nicht die Krone der Schöpfung – so wichtig ist der Mensch nicht. Den kosmischen Kern bilden die Gottheiten und ihre Welten. Im Grunde beruht unsere 47
tibetische Glaubenswelt auf tiefen, umfassenden Kenntnissen der Seele. Wir wissen, daß etwas in uns mit außermenschlichen Kräften verbunden ist. Das soll nicht heißen, daß wir die besseren Menschen sind. Immerhin aber beschert uns die Vorstellung, zur Vollendung der Welt gebraucht zu werden, eine beträchtliche geistige Kraft. Bist du mit dieser Erklärung zufrieden?«
Er war es – zumindest teilweise. Nachträglich kam mir in den Sinn, Tenzin hätte die Sache imposanter erklärt, mit Metaphern und Allegorien. Es war ja schließlich sein Job. Aber Roman hätte nicht viel damit anfangen können. Während das Teewasser kochte, ließ ich meine Augen umherschweifen. Auf dem kleinen Altar, neben verschiedenen Kultgegenständen und einer vergoldeten Buddhastatue, hing ein Rosenkranz aus Bergkristall. Das Foto vom Dalai Lama trug eine persönliche Widmung in der Handschrift Seiner Heiligkeit. Tenzin erledigte für ihn die PR-Angelegenheiten in Europa. Zu dem Bücherregal gehörte eine Schreibtischplatte, auf der ein Computer und ein Faxgerät standen. Die Heiligen Schriften wurden in gemusterten Seidenhüllen aufbewahrt. Auf dem Bett lagen eine bunte Tagesdecke und seidene Kissen. Keine Kargheit, keine harte Pritsche. Ich lehnte mich bequem zurück.
»Eigentlich hast du es schön
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