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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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das Gesicht einer Sechzehnjährigen. Sie sah im Scheitern ihrer Ehe einen Widerspruch zu den Idealen, die sie beseelten. Ich erfuhr auch, daß Matthias sie schlug.
    »Ich halte das nicht mehr aus, Tara! Es ist so demütigend.«
    »Er hat ein konventionelles Frauenbild im Kopf. Du bist auf dem falschen Dampfer.«
    Sie starrte zu Boden.
    »Was soll ich den Eltern sagen?«
    »Die Wahrheit.«
    »Das kann ich nicht!«
    »Dann rede mit Tenzin.«
    »Unmöglich!« rief sie entsetzt.
    »Sei nicht töricht. Tenzin lebt nicht auf dem Mond.«
    Immerhin bewirkte das Gespräch, daß Lhamo ihren Mann verließ und die Scheidung einreichte. Sie stellte keine Unterhaltsansprüche und machte ihm auch die Wohnung nicht streitig, obgleich sie mitgeholfen hatte, den Umbau zu finanzieren. Die Eltern mischten sich nicht ein, aber Amla war in Sorge. Ich hatte schon durchblicken lassen, daß Matthias meine Schwester nicht »gut« behandelte.
    Lhamos blaue Flecken hatte sie auch gesehen. Daß ein Mann seine Frau zu respektieren hat, war für uns selbstverständlich. Tibeter leiden weder unter einem Sexspleen noch unter Neurosen.
    Machogehabe kommt ebensowenig auf wie der Gedanke, jemandem Gewalt anzutun.
    Amla schwang keine langen Reden, umarmte Lhamo und sagte, sie würde es dem Vater mitteilen. Lhamo sollte ihr Mädchenzimmer beziehen, bis die Sache durchgestanden war. Bei der Angelegenheit vergoß Lhamo viele Tränen. Ich an ihrer Stelle hätte Matthias zähneknirschend verwünscht. Amla meinte, daß ich meinen aufbrausenden Charakter einer Großtante, der heiligen Yüdon Rimpoche, verdankte, die in unserer Familie in berüchtigter Erinnerung stand.
    »Lhamo glaubt, daß sie die einzige Tibeterin in der Familie ist.
    Dabei ist sie durchweg ausländisch geworden. Keine Tibeterin würde dulden, daß ihr Mann sie schlägt. Sie würde noch am gleichen 38
    Tag ihre Koffer packen.«
    Ich brach in Lachen aus. Amla lachte mit mir. Ihre kräftigen weißen Zähne leuchteten. Sie stand vor dem Hausaltar, goß aus einem kleinen Zinnkrug zerlassene Butter auf die Lampen. Ihre Hände waren gelenkig und wohlgeformt. Bei jeder Bewegung klirrten ihre Armreifen leise. Sie hatte ein wundervolles Gesicht mit scharf geschnittenen Zügen und breiten Wangenknochen. Ihr Haar, von einigen Silberstreifen durchzogen, war zu zwei langen Zöpfen geflochten. Um den Hals trug sie eine Kette aus Türkisen und Si-Perlen – Augensteine –, die als besonders wirksame Amulette gelten.
    In Glas und Zinngefäßen flackerten die Flämmchen der Butterlampen, züngelten mit sanfter Neugierde. Eine Anzahl Mani Mechors, durch warme Luft betriebene Gebetsmühlen, drehten sich mit leisem Flirren. Rollbilder schillerten in leuchtenden Farben. Es roch nach Essen, Weihrauch, Orangenschalen und Kampfer, Gerüche, die eng mit meiner Kindheit verwoben waren.
    Wir hatten früher in Rikon gewohnt. Jetzt lebten meine Eltern seit Jahren in einem Zürcher Außenquartier. Der Stadtteil bestand aus einfachen Häusern, zu denen kleine Rasenflächen und Obstgärten gehörten. Rentner und junge Familie wohnten hier. Vor den Türen standen Fahrräder, Kinderwagen und Skateboards. Das Haus war schon ziemlich alt, der graue Verputz blätterte ab. Der prachtvolle Garten wurde von den Nachbarn bewundert. So wie der Gläubige sich an die Säule des Tempels anlehnt, um aus ihr Kraft zu empfangen, so schöpfte mein Vater Zuversicht aus dem Wachstum seiner Bäume und Sträucher. Er war seit einem Jahr pensioniert; der Garten war sein Lebensinhalt, seine Zuflucht, in gewissem Sinne eine heilige Stätte.
    »Komm«, sagte Amla. »Trinkst du Buttertee? Ich glaube, er ist noch ziemlich warm.«
    Wir gingen in die Wohnküche. Amla holte Gläser aus dem Schrank. Es war ein milder Sonntag im Oktober. Auf der Straße spielten die Nachbarskinder; ihr Geschrei und das Rumpeln der Skateboards erfüllten die diesige Luft. Es roch nach verbranntem Laub. Durch das Fenster sah ich meinen Vater. Er kauerte in abgetragenen Kleidern am Boden, rupfte Unkraut aus, stocherte dann mit einem Spaten in einem Gemüsebeet. Amla folgte meinem Blick.
    Ein Seufzer hob ihre Brust.
    »Dein Vater ist ein Träumer.«
    Ich zuckte zusammen.
    39
    »Wie meinst du das?«
    Sie schüttelte stumm den Kopf. Und wie üblich funktionierte der alte Automatismus. Dazu bin ich erzogen, dachte ich, nicht zu fragen und mir meinen Teil zu denken. Andernfalls würde ich mich einmischen. Jetzt war ich erwachsen, aber die Form wurde gewahrt.
    Inzwischen setzte

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