Die Tibeterin
dauerte so lange, daß sie unheimlich wurde. Schließlich straffte sich Pala. Er nickte mir zu.
»Ich… ich weiß nicht, was ich gesagt habe, Tara. Ich sehe noch nicht klar. Da ist etwas in den Sternen, das leuchtet. Es kommt mir sehr merkwürdig vor. Wirklich einzigartig. Laß mich, Tara. Ich habe zu denken. Das Wichtigste ist, daß ich mich erinnere…«
Er streckte das Kinn vor, spähte angestrengt vor sich hin.
Schließlich nickte er mir gewichtig zu.
»Wenn ich mich nicht täusche, brennt da ein Feuer.«
Er starrte vor sich hin. Es war wie ein Sichverlieren in einem fernen Land. Er rang mit Erinnerungen, die immer sichtbarer und bedrängender wurden. Künstlich erschaffen oder einem Traum entstiegen? Ich wußte es nicht, aber es beunruhigte mich sehr. Ich trank meinen Tee aus.
»Ich muß jetzt gehen.«
Amla fragte mit erstarrtem Gesicht:
»Willst du wirklich nicht zum Essen bleiben?«
»Nein, ich habe noch zu tun. Und morgen operieren wir.«
Ich stand auf, sprach die Worte der Höflichkeit, mit denen sich eine Tochter von den Eltern verabschiedet, selbst wenn sie Ärztin ist und feststellen muß, daß der Vater meschugge wird. Tashi nickte mit fast übertriebener Würde, das war alles. Er hatte das Gesicht dem Fenster zugewandt. Amla brachte mich an die Haustür. Ihre Augen blickten stumpf. Ich fragte:
»Wie lange ist er schon so?«
Amlas Stimme klang gedämpft, aber deutlich und klar. Trotz 44
meiner Verwirrung spürte ich, wie die Spannung, die von ihr ausging, mich beinahe körperlich berührte.
»In letzter Zeit sagt er oft seltsame Dinge.«
»Depressionen darf man nicht unterschätzen«, erwiderte ich. »Ein Fünftel aller pensionierten Männer ist davon betroffen. Ich werde mich nach einer entsprechenden Therapie umsehen.«
Sie schüttelte den Kopf.
»Es ist nicht das, was du glaubst.«
»Wir sollten das nicht auf die leichte Schulter nehmen, Amla. Die Kosten übernimmt die Krankenkasse.«
Sie antwortete nicht. In ihren Augen konnte ich lesen, was sie dachte. Also gut. Wo war der Autoschlüssel? Ich durchsuchte meine Tasche, als sie im beiläufigen Ton hinzufügte:
»Übrigens, Tenzin hat vor ein paar Tagen angerufen.«
»Wie geht es ihm?«
»Gut. Er hat nach dir gefragt. Du solltest ihn mal besuchen.«
Ich versprach es. Sie legte beide Hände auf meine Arme und hielt mich einen Augenblick lang fest, bevor sie mir die Tür öffnete. Ich knöpfte meine Daunenjacke zu. Die Kälte kroch mit dem anbrechenden Abend heran. Die Kinder waren verschwunden. Nur das Brausen des fernen Verkehrs drang durch den Herbstnebel.
Meine Mutter stand an der Tür, in ihrer gewohnten Haltung, die Hände unter der seidenen Streifenschürze verborgen. Ich ging auf den Wagen zu, schloß auf. Bevor ich einstieg, winkte ich ihr zu. Sie winkte zurück. Dann wandte sie sich um, schloß die Tür hinter sich.
Ich wartete einen Augenblick, aber in der Küche ging kein Licht an.
45
5. Kapitel
A m Donnerstag hatte ich frei. Ich rief Tenzin an, daß ich kommen würde, und fuhr in Richtung Winterthur. Gleich nach der Ortschaft Rikon, wo ich meine Kindheit verbracht hatte, wurde die Straße steil und kurvig. Die Berge verschwanden im Nebel, die Felder waren matschig und grau. Von den Zweigen tropfte Feuchtigkeit. Das Klosterinstitut war, wie alle tibetischen Häuser, nach Süden ausgerichtet. Bald kam das Gebäude zwischen den Bäumen zum Vorschein. Es war in den Hang gebaut und wirkte klotzig. Der 1969
verstorbene Schweizer Heinrich Kuhn-Ziegler hatte das Institut gestiftet. Zuerst hatte er nur ein Haus für die Flüchtlinge zur Verfügung gestellt. Dann begann er, sich für die tibetische Glaubenswelt zu interessieren. Er beschloß, für die Tibeter im Exil und auch für die Menschen im Westen einen Ort zu schaffen, an dem sich beide Kulturen begegnen konnten. Beim Bau des Klosters wurde mein Großonkel Geshe Asur Tseten zu Rate gezogen. Ich hatte ihn noch gut in Erinnerung; er war klein und schwerfällig, trug eine Hornbrille, und sein rundes Gesicht glänzte vor Fröhlichkeit.
Über die Abscheulichkeiten, die er hatte erdulden müssen, sprach er nie, jedenfalls nicht zu uns Kindern. Ich war traurig gewesen, als er vor zwölf Jahren starb. Das Klostergebäude wirkte massiv und auf besondere Art zeitlos. Die Fenster waren tief in die Fassade eingelassen, die Mauern des oberen Stockwerkes in kräftigem Braunrot gehalten. Ein vergoldeter Tschorten – ein Reliquienschrein, aus zwei glockenförmigen Aufbauten
Weitere Kostenlose Bücher