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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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also) erzogen werden.
    In der Hierarchie der Tulkus - der Inkarnationen – nehmen sie einen hohen Rang ein. Kleine Tulkus wurden möglichst bald in den Labrang ihres Vorgängers gebracht, damit sie die Erziehung und den religiösen Unterricht bekamen, die ihrer Stellung gemäß waren.
    Tenzin jedoch war ein zartes Kind; bei jeder Erkältung floß ihm Eiter aus den Ohren. Gyala machte sich Sorgen. Sie bat den Abt des Großklosters, den Kleinen in der Familie zu lassen, bis er ein paar Jahre älter und kräftiger war. Diese Bitte wurde ihr gewährt.
    Roman meinte, ich sollte mal ein Buch darüber schreiben. »Das wäre keine Literatur«, sagte ich. »Jeder Tibeter könnte seine Memoiren verkaufen. Wir sind gegenwärtig im Trend.«
    Gyalas zweites Kind war ein Mädchen, Lhamo. Ein Jahr später kamen Chodonla und ich als Zwillinge auf die Welt. Wenn ich an meine Kindheit denke, sehe ich eine Welt, die so ganz anders war als die Welt, in der ich heute lebe. Mein Gedächtnis ist angefüllt mit verworrenen Erinnerungen. Natürlich waren die Chinesen da, mit ihren Paraden und Umzügen und Versammlungen, aber Chodonla und ich ängstigten uns nicht vor ihnen, weil unsere sanftmütige und fröhliche Umgebung das Bedrohliche ihrer Uniformen, Waffen und Sprechchöre dämpfte. Wir erlebten selten, daß sie sich nicht gut oder 33
    wohlerzogen benahmen, ob dies von ihrer Disziplin herrührte oder Verstellung war. Wir bewunderten ihre roten, goldbesternten Flaggen, ihre Paraden bei Fackelbeleuchtung, ihre eingängige Musik.
    Wir merkten nicht, wie die Lage sich allmählich verschlechterte. Die chinesischen Behörden führten sogenannte »demokratische Reformen« durch, beschlagnahmten Häuser und Grundbesitz. Sie richteten Volkskommunen und landwirtschaftliche Kooperativen ein.
    Einflußreiche Tibeter waren gezwungen, ihre Propaganda zu unterstützen, wenn sie ihre Familien schützen wollten. Die Kommunisten glaubten, daß die Landbevölkerung Tibets sie unterstützen würde, doch die anti-chinesischen Gefühle nahmen zu.
    Das alles erzeugte Wirrwarr und Chaos. Praktisch von einem Tag zum anderen brach die tibetische Wirtschaft zusammen. Zum ersten Mal seit Menschengedenken erlebte Lhasa eine Hungersnot.
    Die Lage spitzte sich zu, als in China die »Viererbande« an die Macht kam. Die Rotgardisten fielen über unser Land her wie Geierfalken. Sie marschierten in Bataillonen durch die Straßen, spielten Ziehharmonika, reckten die Fäuste, während die Anführer der Sprechchöre mit hohen schrillen Stimmen ihre Schlagwörter brüllten. Ansprachen und Trommelfeuer riefen Ausbrüche hysterischer Gewalt hervor. Die Rotgardisten zerstörten Tempel und Klöster, ermordeten Gelehrte und Mönche, verwüsteten das Land mit der Raserei eines fanatischen Geistes. Meine Eltern wußten, daß ihre Verhaftung nur noch eine Frage der Zeit war. Heimlich bereiteten sie die Flucht vor. Gyala ahnte, daß sie Tibet nie wiedersehen würde.
    Sie verpachtete das verbleibende Ackerland und die Herden an die Kleinbauern und öffnete ihren Getreidespeicher.
    Einige der Bauern zogen es vor, mit unserer Familie ins Exil zu gehen. In einer stürmischen Frühlingsnacht machte sich unsere kleine Karawane auf den Weg. Wir waren als Nomaden verkleidet, trugen Fellmäntel und Stiefel. Ich saß hinter Wangdup, einem jungen Bauern, im Sattel. Er war jung und kräftig und als guter Reiter bekannt, was mich sehr beeindruckte. Beim Aufbruch geschah es, daß meine Schwester Chodonla verloren ging. Ihr Fehlen wurde erst bei Tageslicht entdeckt. Auch Momo, unser kleiner Hund, war nicht da. Wir vermuteten, daß Chodonla auf der Suche nach dem Tier den Aufbruch der Karawane verpaßt hatte. Was nun? An eine Umkehr war nicht zu denken, sie hätte uns alle in Gefahr gebracht. Da erbot sich Wangdup, zurückzureiten und Chodonla zu holen. Ich wollte mit ihm reiten, aber die Eltern gestatteten es nicht. Sogar Wangdup 34
    sagte, es sei zu gefährlich. Ich bat ihn schluchzend, Momo nicht zu vergessen.
    Wangdup versprach es. Die Eltern segneten ihn, gaben ihm Geld, und setzten ihre Flucht fort. Wangdup verschwand in der Nacht. Wir sollten ihn niemals wiedersehen. Die Regenfälle hatten Erdrutsche verursacht, der Kyiuschu-Fluß war über die Ufer getreten. Jahre später erfuhren wir, daß Wangdup im Hochwasser ertrunken war.
    Was denn aus Chodonla geworden war, fragte Roman. »Sie wuchs in einem chinesischen Kinderheim auf und wurde als Lehrerin ausgebildet. Heute ist sie wieder in Lhasa.

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