Die Tibeterin
besser.«
»Jetzt möchte ich dir einige stellen.«
»Es ist schon so lange her. Ich habe das alles schon fast vergessen.«
Sie war so schwer zu durchschauen, oft so gesprächig, ohne jedoch je etwas zu sagen. Ich dachte, ich werde es nicht übers Herz bringen, sie zu quälen.
Über Lhasa wehten Stürme; die Lampe flackerte und verlosch schließlich. Trotz der geschlossenen Fensterläden war es im Raum nicht dunkel; ein Gitter aus Licht malte sich auf den Boden. Eine Nacht wie jede andere in Lhasa. In den Gefängnissen schrien die Gefolterten. Ihre Schreie tropften durch die Mauern wie Feuchtigkeit. Ich hörte sie in mir und fröstelte.
»Hast du noch Durst?« fragte ich.
Sie hielt mir ihr Glas hin. Auf ihrer Stirn klebten Schweißtropfen.
Ich nahm die Flasche, füllte ihr Glas und sagte:
»Du kannst dir aussuchen, ob du sprechen oder nichts sagen 384
möchtest, ganz wie du willst.«
»Wir haben nicht viel Zeit«, sagte sie leise.
Es beginnt, dachte ich. Sie war dabei, die starre Mauer abzutragen, die sie in jahrelanger Arbeit um sich herum errichtet hatte. Sie hielt plötzlich die Hand vor die Augen, als versuche sie, Gespenster abzuwehren, die vor ihr auftauchten. Ihre Erinnerungen suchten den Weg ins Freie. Manchmal murmelte sie etwas Unverständliches, rieb sich die Stirn. Das erste Aufschluchzen war so schwer, daß es einem Röcheln glich. Tränen quollen unter den geschlossenen Lidern hervor, sie drückte den Handrücken gegen die Zähne, weinte verbissen in sich hinein. Weitere Seufzer folgten, leichtere, als wäre nun der Bann gebrochen. Sie flüsterte:
»Ich habe das alles hinter mir gelassen.«
»Ich möchte wissen, was sie dir angetan haben.«
Ihre Zähne schlugen aufeinander. Sie sagte:
»Es ist sehr schwierig, darüber zu sprechen.«
385
49. Kapitel
S ie setzte setzte sich mit dem Rücken zur Wand, mir gegenüber.
Es war kalt im Raum, sie hatte Fieber und hustete. Ich legte die grüne Satindecke um ihren dünnen Körper. Nur ihr Kopf ragte hervor, unwirklich schien er auf dunklem Gewässer zu schwimmen.
Sie kauerte unter der Decke, und jetzt, im Schmerz, bebten ihre Nasenflügel, ihr Gesicht zog sich zusammen, ihre Pupillen wurden eng. Sie sprach zuerst stockend, von Schluckauf unterbrochen, hustend, keuchend. So erfuhr ich ihre und Norbus Geschichte. Nicht alles; nur einen Teil. Über vieles wollte sie nicht sprechen. Auch nicht über ihre Familie. Sie hatte anscheinend eine behütete Kindheit gehabt. Und eine Zwillingsschwester, Tara, an der sie sehr hing. Die Rotgardisten waren über Tibet hergefallen, und die Eltern wollten sich in Sicherheit bringen. Einige Dienstboten gingen mit der Familie ins Exil, sattelten heimlich Pferde und Maultiere. Es war stockdunkel und regnete in Strömen. Im letzten Augenblick bemerkte Chodonla, daß ihr kleiner Hund fehlte. Sie lief in die Stallungen, um das Tier zu suchen. Als sie zurückkam, war die Karawane ohne sie aufgebrochen.
»Meine Eltern haben mich verlassen. Sie konnten schneller fliehen, wenn ich nicht dabei war… Das hat man mir gesagt. Ich denke, es war gelogen. Ich vermißte meine Schwester und weinte jede Nacht.
Es hat nie aufgehört. Meine Schwester ist der Mensch auf der Welt, von dem ich am meisten träume. Und sie gleichzeitig der Mensch, an den ich am wenigsten denke. Du verstehst vielleicht?«
»Ja.«
Sie war durch Lhasa geirrt, tagelang. Alle Verwandten waren auf der Flucht. Die Rotgardisten plünderten jedes Haus, zerstörten Klöster und Heiligtümer. Chodonla hatte sich von Abfällen ernährt und in Ruinen geschlafen. Als die Rotgardisten sie fanden, warfen sie ihren Hund in die Luft und spießten ihn auf ein Bajonett auf. Sie pferchten Chodonla mit anderen Kindern in einen Lastwagen. Man brachte sie nach China, wo sie in einem Heim erzogen wurde.
»Vor ein paar Jahren«, sagte Chodonla, »habe ich in Lhasa einen Onkel getroffen. Er sagte, daß meine Eltern mich ihr Leben lang gesucht hätten. Ich empfand wenig dabei. Mit der Zeit war es mir gleichgültig geworden. Und ich hatte Angst, mit ihm zu sprechen.
Mein Mann war im Gefängnis gestorben. Ich wurde überwacht… «
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Sie war sechs Monate in Haft gewesen, an Händen und Fußgelenken gefesselt. Als sie entlassen wurde, war sie nur noch Haut und Knochen. Sie war verstümmelt, ihr Haar war ausgefallen, ihr Zahnfleisch entzündet. Sie hatte hohes Fieber. Was mit Norbus Leiche geschehen war, wußte sie nicht; man hatte sie irgendwo verscharrt. Sie hatte ihre
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