Die Tibeterin
aber sie war nie hungrig. Es erschöpfte und erzürnte sie, daß man sie zum Essen zwang. Die Kunden mochten es nicht, wenn die Mädchen zu mager waren.
Im Gefängnis war sie mit Nationalisten in Berührung gekommen, 388
manche waren nur noch menschliche Wracks. Sie hatte sich einige Namen gemerkt. Obwohl sie unter Beobachtung stand, ging sie Risiken ein, lieferte Informationen, überbrachte persönliche Nachrichten: »Sagen Sie Frau Sowieso, daß ihr Sohn noch lebt, aber deportiert wurde.« Sie entwickelte in diesen Dingen eine kaltblütige Gerissenheit. Ihre Verabredungen erfolgten immer in letzter Minute, an unerwarteten Orten und zu unerwarteten Zeiten; an Straßenkreuzungen, auf dem Markt, in einem Kloster inmitten von Touristen. In Lhasa wimmelte es von grünen Uniformen, die Sicherheitspolizei war überall. Kontrollposten überwachten jede Bewegung innerhalb der Stadt. Hausdurchsuchungen konnten jederzeit durchgeführt werden. Aber immer wieder wurden Kopien der verbotenen tibetischen Flagge hergestellt. Flugblätter, die zum Widerstand aufriefen, wurden an Hauswände geklebt. An vielen Holztüren waren eine gelbe Sonne und ein weißer Halbmond gekritzelt, die Symbole für den Dalai Lama und den Pantschen Lama.
Chodonla setzte täglich ihr Leben aufs Spiel. Es war ihr gleichgültig. Sie wollte ihre Rache zu Ende führen und durchhalten, solange sie konnte. Sie wußte aus eigener Erfahrung, wie wichtig es ist, verletzte Demonstranten in Sicherheit zu bringen. Nicht nur, daß die Chinesen ihnen jegliche medizinische Hilfe verweigerten. Sie spritzten den Verwundeten Drogen in die Venen und verhörten sie dann. Die Gefangenen packten alles aus. Die Chinesen trugen Unterlagen zusammen, legten Akten an. Ein paar Tage später wurden ganze Familien verhaftet. Die Furcht war überall, entsetzlich, erdrückend. Das einfache Volk hatte Angst vor den Chinesen wie vor Triebverbrechern. Das war es, was es nicht verstehen konnte: ihre absolute Gleichgültigkeit gegenüber menschlichem Schmerz. Zu den Rebellen gehörten Menschen aus allen Schichten, Frauen und Männer, Bauern, Mönche, Studenten.
Man sprach flüsternd von Chodonla; man bewunderte ihren Mut.
Nur wenige kannten ihren Namen. Und ihren Beruf fast keiner. »Und dann«, sagte Chodonla, »lernte ich Li kennen.« Er saß mit Freunden an einem der Fantan-Tische; Chodonla hatte bemerkt, daß er sie beobachtete. Nach der Spielrunde, die er verlor, lud er sie an seinen Tisch. Er sprach leise, höflich, bot ihr eine Zigarette an und bestellte französischen Champagner, den teuersten. Er war Ingenieur und hatte sich für drei Jahre in Tibet verpflichtet. Man hatte ihm eine Dienstwohnung zur Verfügung gestellt, aber die meiste Zeit lebte er 389
auf der Baustelle, in der Nähe von Shigatse. Das Leben war eintönig.
Keine Zerstreuung, kein Fernsehen, weder Bücher noch Zeitschriften; die Ausgaben der »Volkszeitung« trafen mit vierzehntägiger Verspätung ein. Jetzt habe er zwei Wochen Urlaub.
Ob er verheiratet sei? fragte Chodonla. Ja, aber seine Frau sei bei schlechter Gesundheit. Ob er Kinder habe? Er antwortete dumpf:
»Ich hatte einen Sohn und eine Tochter. Beide sind tot.«
Chodonla nippte schweigend an ihrem Glas. Sie wußte, wann Fragen erwünscht waren, und wann nicht. Doch er setzte hinzu: »Ihr Gesicht erinnert mich an meine Tochter Mei.«
Wie alt sie denn sei, wollte er wissen. Sie machte sich, wie üblich, fünf Jahre jünger; Chinesen haben eine Vorliebe für kindhafte Frauen. Sun Li schlief nicht mit ihr, nicht an diesem Abend, und auch nicht am nächsten, aber er bezahlte sie gut für die Zeit, die sie mit ihm verbrachte. Er erzählte ihr, daß er ein Elektrizitätswerk am Ufer des Tsangpo baute. Mit einem besonderen Wärmepumpensystem sollte die Stromversorgung in Shigatse verbessert werden.
»Das Problem ist, wir mußten dabei eine Brücke bauen, die ohne genügende Schleusenkapazität entworfen wurde. Wir blockieren dabei den Fluß, der anschwillt, sobald der Monsun einsetzt. Kürzlich hat ein Erdrutsch drei Tote gefordert. Aber die Behörden lassen einfach in den Raum hinein bauen, weil es so geplant wurde. Im Zeitalter der Technik entstehen die Katastrophen durch die Dummheit der Menschen.«
Er sah Chodonla mit traurigen Augen an.
»Die Äcker sind für Monate von Schlammpfützen überflutet. Und ich sitze nachts wach und denke, wie ich den Bauern helfen könnte.«
Chodonla behielt ihr Erstaunen für sich. Seine Offenheit war
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