Die Tibeterin
Stelle verloren. Das wenige, was sie besaß, war beschlagnahmt, ihr Zimmer in der Arbeitseinheit ihrer Nachfolgerin zugeteilt worden. Eine Nachbarin gab ihr Unterkunft und pflegte sie, auf die Gefahr, selbst verdächtigt zu werden.
Chodonla war lange krank. Ani Wangmo hatte nicht das Geld, um Medikamente zu kaufen. Als Chodonla merkte, daß sie schwanger war, wollte sie abtreiben. Der Vater des Kindes mußte einer ihrer Folterer sein, der Gedanke war ihr unerträglich. Ani Wangmo sagte, daß der günstige Zeitpunkt längst überschritten sei. Nun würde man das Ungeborene in kleinen Stücken aus ihrem Leib holen. Und dazu ohne Narkose. So sei es auch bei ihr gewesen, damals. Eine Abtreibung ist in den Augen der Tibeter etwas Abscheuliches. In ihrer Qual redete sich Chodonla ein, daß das Kind von Norbu sein könnte. Sie trug es aus und brachte es mit Ani Wangmos Hilfe zur Welt.
Ihr Mutterherz regte sich, und sie schenkte dem Baby ihre verzweifelte Liebe. Sie konnte Kunsang nicht ernähren; Ani Wangmo fand eine Amme für sie.
Lange Zeit konnte Chodonla nicht schlafen, lag jede Nacht wach, hörte das kleinste Geräusch. Sie verlor die Kontrolle über ihr Denkvermögen. Wer bin ich? fragte sie sich. Wo befinde ich mich?
Wie heißt diese Stadt hier? Warum fühle ich mich so schlecht? Und wer war Norbu? Was geschah mit ihm? Hat er je existiert? Wenn dann endlich der Schlaf zurückkam, lag sie wie eine Tote auf Ani Wangmos Matratze, schlief die ganze Nacht und manchmal den ganzen Tag. Der Raum hatte kein Fenster, kein Licht. Aber Chodonla erholte sich. Etwas Neues erwachte in ihr, etwas Hemmungloses, Wildes. Man hatte Norbu ermordet, ihr Leben zerstört. Sie würde sich rächen. Und ihr schien, als ginge sie schließlich ganz in diesem Verlangen nach Rache auf.
Sie gab sich einem fliegenden Händler hin, auf einer schmutzigen Matte. Als Lohn ließ er sie ein paar Stunden für ihn arbeiten. Sie verkaufte billige Türkis-Imitationen und Bernsteinketten aus Plastik.
Sie trug den Schmuck mit Anmut und lockte die Kunden an. Ihr Haar wuchs kräftig und füllig nach; allmählich kehrte ihre Schönheit 387
zurück. Sie nahm es nicht wahr, weigerte sich, in einen Spiegel zu schauen. Nach ein paar Monaten zettelte der Händler eine Schlägerei an, schlug einen Mann zum Krüppel und wurde verhaftet. Seine Frau beschimpfte Chodonla und schickte sie weg. Sie begegnete einem Vernehmungsoffizier, der sie im Gefängnis gehabt hatte, und folgte ihm auf sein Zimmer. Er benutzte sie auf eine Art, die ihr vertraut war. Sie empfand keinen Ekel dabei, weder vorher noch nachher.
Die Offiziere reichten sie untereinander weiter, wie ein Spielzeug.
Chodonla hatte sich längst daran gewöhnt, auf ihre Wünsche einzugehen. Die Schmerzen empfand sie kaum, sie hatte Schlimmeres erduldet. Ein paar Geldscheine machten das wett.
Einer der Männer machte sie im Amy mit dem Besitzer bekannt. In China waren solche Häuser geschlossen worden, in Lhasa blühte das Geschäft. Der Besitzer sah sofort, daß man Chodonlas Schönheit und perfekten Kenntnisse der chinesischen Sprache besser einsetzen konnte. Er zahlte die nötigen Schmiergelder; Chodonla erhielt eine Arbeitsbewilligung. Ihr Gehalt war schäbig, aber sie bekam eine Zulage für Kleider und Schminke und durfte kleine Geschenke behalten. Sie kaufte sich einen kleinen Spiegel, steckte ihr Haar auf, wie es verlangt wurde, schmückte es mit Bändern und Spangen. Sie betonte ihr Muttermal, färbte sich die Augen schwarz, die Lippen purpurn. Sie erkannte sich nicht wieder, zertrümmerte den Spiegel mit der Puderdose und verletzte sich die Hand.
Chodonlas Haß kühlte nicht ab, sondern loderte tief in ihr, wie ein unzähmbares Feuer. Im Amy verlangten die Gäste nach ihr. Es gab kluge Köpfe unter ihnen, Männer, die ein hartes Leben führten und Zerstreuung suchten, wie überall. Chodonla strahlte diesen besonderen Reiz aus, den nur Menschen haben, die entweder pervers oder unheilbar krank sind. Sie sah so kühl aus, so betörend unnahbar.
Sie floh in einen Bereich, der für die anderen unzugänglich war, blieb unerkannt. Sie tat alles, was von ihr verlangt wurde, ohne die geringste Furcht zu zeigen, so leicht, so natürlich und in vollkommener Ruhe. Nur ihre Brüste zeigte sie keinem. Auch das faszinierte. Die Gäste tranken viel, wie Männer es sich fern von ihren Familien angewöhnen. Chodonla trank mit ihnen, lächelte, hörte zu. Alkohol vertrug sie, auch den stärksten. Sie war zu dünn,
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