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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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ungewöhnlich. Im allgemeinen logen sich die Kaderleute etwas zurecht oder sagten nur die halbe Wahrheit. Sie übten auch niemals Kritik; bei ihnen lief alles reibungslos nach Parteivorschriften.
    Am dritten Abend zahlte Sun Li für ein Zimmer. Er zog sich langsam aus, ohne sie aus dem Blick zu lassen. Einen Augenblick stand sie, Sun Li den Rücken zugekehrt, vielleicht um seinem Blick zu entgehen. Dann riß sie am durchgehenden Reißverschluß, so daß ihr Kleid mit einem Schlag auf ihre weiß leuchtenden Beine fiel. Sie trat darauf und wankte leicht, als sie die Spange ihrer hohen Schuhe öffnete und dabei die Balance verlor. Sie trug Nylonstrümpfe und Strumpfhalter, auch das war Vorschrift. Sie zog alles aus, nur den 390
    Büstenhalter nicht, ging auf die andere Seite des Bettes und streckte sich im Schein der Lampe aus. Er war gut und zärtlich zu ihr. Sie hob die Beine leicht an, wölbte ihm ihr Becken entgegen. Doch er sagte, sie sollte auch den Büstenhalter lösen. Mit einem Klagelaut verbarg sie ihr Gesicht mit beiden Händen. Er sprach sanft zu ihr; sie gab seinem Wunsch nach. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Er wurde blaß, stellte Fragen. Da sie ihm vertraute, erzählte sie ihm einiges. Das, was sie ihm verschwieg, konnte er sich ausmalen.
    Vielleicht auch nicht.
    »Wir lagen nebeneinander, auf dem weißen Bettuch«, erzählte Chodonla. Er zündete sich eine Zigarette an, aber er wandte den Kopf nicht zu ihr. Er erzählte ihr, daß er beide Kinder auf dem »Platz des Himmlischen Friedens« verloren hatte. Sie waren Studenten und hatten am Aufstand teilgenommen. Liu war zwanzig, im ersten Universitätsjahr, Mei erst siebzehn, fast noch ein Kind. Im Morgengrauen eröffneten die Soldaten das Feuer. Liu traf eine Kugel; er war schon tot, bevor ihn der Panzer überrollte. Mei wurde bei lebendigem Leib zerquetscht. Die Toten wurden auf der Stelle verbrannt. Sun Lis Frau verlor vor Kummer den Verstand und wurde in eine Heilanstalt eingewiesen, wo man sie mit Elektroschocks behandelte.
    Mit Ani Wangmo und dem Kind bewohnte Chodonla ein ungeheiztes Zimmer in der ehemaligen Altstadt. Sie hatten Wände und Fenster mit Zeitungen verklebt. Lhasa liegt auf 3770 Meter Höhe, die Kälte ist scharf. Im Raum gab es nur eine Glühbirne. Etwa dreißig Personen teilten sich einen Wasserhahn und eine Toilette ohne Spülung. Jeden Morgen steckte Chodonla den Yakdung-Ofen an, dessen Abzugsrohr durch ein Loch in der Tür ins Freie führte.
    Der Ofen war alt und brannte manchmal nicht. Der stickige Rauch war Gift für Chodonlas Lungen, und Kunsang war chronisch erkältet. Als Sun Li Chodonla vorschlug, mit der Kleinen in seine Dienstwohnung zu ziehen, willigte sie nach anfänglichem Zögern ein.
    Er war bereit, für ihren Unterhalt aufzukommen, und verstand nicht, warum sie sein Angebot ablehnte. Er glaubte, daß man sie im Amy unter Druck setzte und bot dem Besitzer Geld an, um Chodonla
    »loszukaufen«. Daß die Weigerung von Chodonla ausging, kränkte ihn. Sein Einkommen war achtmal so hoch wie ein vergleichbarer Arbeitslohn in Zentralchina. Er besaß die Mittel, um hilfreich zu sein. Chodonla konnte ihm die Wahrheit nicht sagen. Sun Li fragte 391
    nicht weiter. Sein Vertrag lief ab; in einigen Monaten würde er Tibet verlassen, und eine Prostituierte mußte sehen, wie sie durchs Leben kam.
    Sun Li war müde, erschöpft. Er war traurig und gut. Chodonla konnte ihn lange ansehen. Auch wenn er lachte, war in seinem Blick ein Schimmer von Trauer. Es waren die Augen eines verzweifelten Mannes. Es war gefährlich für sie, ihn anzusehen. Eine verloren geglaubte Regung kehrte zurück, weich, vertrauend, arglos. Sie hatten seltsame Momente, in denen sie ruhig und entspannt miteinander redeten und manchmal sogar lachten. Chodonla teilte ihre Einsamkeit mit ihm, mehr nicht. Sie teilten auch das Bett, aber meistens blieb er nachts auf seiner Bettseite. Er fand sich ruhig damit ab, daß ihm Sexualität nicht mehr viel bedeutete. Nachts redete er halb im Schlaf. Er sagte, er sei unglücklich, er glaube nicht mehr an China und auch nicht mehr an den Beruf, den er ausübe; er glaube an nichts mehr. Die Liebkosung ihrer Hände beruhigte ihn. Und am Morgen schien er vergessen zu haben, was er in der Nacht gesagt hatte. Es war eine gegenseitige Zuneigung, die sie verband, ein tröstlicher Ersatz für Liebe. Sun Li brauchte diese Frau, in deren Träumen er ein Fremder war. Er überließ ihr die Wohnung, als wollte er sie bestechen, damit

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