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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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rollte den Kopf hin und her und brachte die Augen nicht auf. Ihre Schminke hinterließ Flecken auf dem Kopfkissen, ihr verschmierter Mund war rot, als habe sie Blut getrunken. Ich streichelte sie, bis sie einschlummerte. Sie glühte und hustete, legte beide Arme um meinen Hals, klammerte sich an mir fest, wie ein Kind an der Mutter. Ich wurde fast verrückt vor Verlangen. Vor Morgengrauen wachte sie auf; ihre Augen schimmerten klar im Nachtlicht.
    »Schläfst du?« flüsterte sie.
    Ich küßte ihre trockenen Lippen.
    »Es tut mir leid…« sagte sie leise. »Es ging mir nicht gut.«
    »Komm!« flüsterte ich.
    Hastig begann ich, sie zu entkleiden. Wir hatten nur wenig Zeit; ich mußte gehen, bevor es hell wurde. Sie lebte in ständiger Angst, daß sie bespitzelt wurde. In dieser Nacht aber liebten wir uns, wie ich es 382
    nicht für möglich gehalten hätte. Nie hatte ich auf dem Gesicht einer Frau so tiefe Leidenschaft gesehen. Die Schmerzen, die man uns zugefügt hatte, entfernten sich, wurden hinausgeschleudert in eine Welt, die wir verwarfen. Wir schufen unsere eigenen Schmerzen; sie gehörten zu uns, sie hörten nicht auf. Sie waren Wahrheit jenseits der Wirrnis.
    Ich war viel unterwegs; aber mehr als ein oder höchstens zwei Monate ohne sie hielt ich nicht aus. Mein Herz und mein Fleisch bedurften ihrer, ich war von ihr besessen. Ich erzählte ihr wenig von mir, sprach nie über meine Mutter. Oft war ich nahe daran, aber mich beunruhigte ihre extreme Empfindsamkeit. Ich liebte sie viel zu sehr, um sie mit den schrecklichen Dingen zu quälen. Ich stellte ihr auch keine Fragen mehr; was sie gelitten haben mochte, konnte ich nur ahnen. Endlich hatte ich erkannt, worauf es ankam: nicht auf Rache, sondern darauf, daß man sich vor dem Bösen rettete und mied, was einem wehtat.
    Ich kannte sie jetzt ein halbes Jahr. Die wenigen Stunden, die ich mit ihr verbringen durfte, genügten mir nicht, aber ich fügte mich.
    Wenn sie sagte, ich könne nicht kommen, machte ich ihr nie einen Vorwurf. Doch im Laufe der Monate fand ich sie sehr verändert, ohne genau sagen zu können, weshalb. Endlich fiel es mir auf: Sie war schlank gewesen, jetzt war sie hager; die Haut spannte über den zarten Knochen. Auf ihren Wangen waren hellrote Flecken, sie schien ständig ein leichtes Fieber zu haben. Eines Nachts war es Ani Wangmo, die mich in die Wohnung ließ. Chodonla würde etwas später kommen, sagte sie. Die Kleine schlief; es lagen neue Spielsachen im Zimmer. An einem Haken hing ein Morgenrock, den ich nicht kannte. Ani Wangmo sagte, daß Sun Li für ein paar Urlaubstage in Lhasa gewesen sei. Ich versuchte, mir meine Wut darüber nicht anmerken zu lassen. Ani Wangmo stellte eine Schale mit Tee auf den Tisch. Ich merkte, daß sie etwas sagen wollte und mit sich selbst rang.
    »Nun, was gibt’s?« knurrte ich.
    Sie schwieg lange; ich ließ ihr Zeit. Schließlich sagte sie:
    »Chodonla ist krank. Sie will nicht, daß du es erfährst.«
    Eis ist nicht so kalt, wie es nun der Griff der Furcht nach meinem Herzen war.
    »Was ist es, Ani Wangmo?«
    »Im Krankenhaus hat man sie geröntgt. Man hat ihr gesagt, sie solle nach Hause gehen und sich ausruhen. Das sagen sie immer, 383
    wenn es sehr schlimm ist.«
    Chodonla kam spät in der Nacht. Sie goß sich einen Brandy ein, trank in kleinen Schlucken. Ihre Wangen waren leicht gerötet, ihre Lippen gekräuselt wie dünnes Seidenpapier. Ihre Pupillen leuchteten, und unter ihren Augen lagen Schatten wie zerdrückte blaue Trauben.
    »Du solltest nicht so viel trinken«, sagte ich.
    Sie zeigte ihre übliche kleine Grimasse, indem sie die Zähne seitwärts in die Unterlippe grub.
    »Gibt es denn etwas anderes, womit man leben kann, wenn nicht mit Alkohol?«
    »Du bist krank«, sagte ich ohne Umschweife. »Ani Wangmo hat es mir gesagt. Warum gehst du nicht ins Krankenhaus?«
    Sie saß auf dem Matratzenrand, gehüllt in ihren neuen Morgenrock aus Kunstseide. Ihr dunkler Blick war teilnahmslos. Auf ihren Lippen lag ein seltsames Lächeln, mit dem sie sich selbst auf sonderbare Weise zu verspotten schien.
    »Ich habe keine Vorzugsberechtigung für ein Bett, und die Warteliste erstreckt sich über Jahre. Und für mich ist es längst zu spät. Laß uns nicht davon reden. Trink! «
    Sie füllte mein Glas und versuchte zu lächeln, brachte es aber nicht fertig. Ich legte den Arm um sie; sie lehnte den Kopf an meine Schulter. Ich sagte:
    »Ich habe dir nie Fragen gestellt.«
    »Ja, das ist

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