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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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habe Kunsang zu Hause zur Welt gebracht, und nicht im Volkskrankenhaus. Ani Wangmo hat mir geholfen. Ich hatte Angst, daß man das Baby durch eine Injektion tötete. Kunsang hat keine legalen Papiere. Sie dürfte nicht einmal zur Schule gehen. Aber Sun Li hat Schmiergelder gezahlt. Er liebt die Kleine. Er hatte einen Sohn und eine Tochter und hat beide verloren.«
    Ich sah sie fragend an. Sie hob die schmale Hand, strich ihr Haar aus der Stirn.
    »Sie starben auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Die Panzer haben sie frühmorgens überrollt, als sie in ihrem Zelt schliefen.«
    Ich zündete mir eine Zigarette an. Sie setzte sich, goß Tee in eine dieser billigen Tassen aus chinesischem Porzellan, wie sie in Lhasa an jedem Marktstand verkauft werden. Sie streckte die Hand nach 380
    einer Zigarette aus, trotz ihrer angegriffenen Lunge.
    »Drei oder viermal war ich nahe daran, ihn zu verlassen. Aber ich denke an die Kleine. Jetzt macht es mir nichts mehr aus, seine Konkubine zu sein. Komisch, wie schnell man sich doch an so etwas gewöhnt.«
    Sie hielt die Zigarette zwischen den Lippen. Ich gab ihr Feuer.
    »Ist er grob zu dir?«
    Ich hoffte, daß es so war, dann würde sie vielleicht bald genug von ihm haben. Sie sah mich erstaunt an.
    »Grob? Nein, überhaupt nicht. Er ist sehr sanft. Er sagt, daß er die Partei nicht liebt, weil sie die eigenen Kinder frißt. Das sagt er nur zu mir. Er hat viel gelitten. Er ist ein guter Mensch.«
    »Der andere… liebt er dich?«
    »Auf seine Art, ja. Ich bin ihm unentbehrlich geworden.«
    Der Stachel der Eifersucht bohrte sich tiefer in mein Fleisch. Ich fragte schonungslos:
    »Liebst du ihn?«
    Die Antwort kam schnell und ohne Umschweife.
    »Nein.«
    »Wie erträgst du ihn dann?«
    »Wie alle anderen. Aber ich kenne ihn besser, das ist der Unterschied. Er hat Alpträume. Er nimmt jeden Abend Schlaftabletten. Zwei, hat der Arzt gesagt. Nicht mehr als zwei. Er muß vorsichtig sein, das Mittel ist sehr stark. Aber die Träume kommen immer wieder. Ich wecke ihn, und er beruhigt sich. Er braucht mich. Ich bin sein… Nachtwächter.«
    »Würdest du ihn verlassen?«
    »Es ist möglich, daß er eines Tages wieder nach China geht. Bis dahin bleibe ich bei ihm.«
    »Aus welchem Grund?«
    »Es gibt nur einen: Kunsang. Sie ist für mich der zwingendste Grund auf der Welt, gut zu ihm zu sein.«
    Sie sprach leichthin. Ich wußte, daß kein Gedanke selbstlos ist, kein Beweggrund unverfälscht. Und doch traute ich ihr nicht. Es war, als ob sie in einem Winkel ihres Herzens nicht an das glaubte, was sie sagte. Sie trug einen Schmerz in ihrem Inneren, einen Schmerz, der dem meinen glich; doch jedes Nachdenken konnte die Geburt der Erinnerung auslösen. Chodonla wollte keine Erinnerung.
    Sie kam mir unendlich vertraut vor, als sei sie ein Stück von mir, und gleichzeitig stellte sie mich vor ein Rätsel. Jede Nacht, die ich mit ihr 381
    verbrachte, war wie eine phantastische Bewußtlosigkeit. Wir teilten das Zimmer mit Ani Wangmo und dem Kind, aber wer in einer Jurte aufgewachsen ist, wird für die Gegenwart anderer unempfindlich.
    Unsere Fähigkeit zur Wahrung der Unstörbarkeit hängt mit dem Aufbau bestimmter innerer Kräfte zusammen. Nomaden sind nüchterne Menschen. Wir laufen den Frauen mit der gleichen Unbefangenheit hinterher, wie die Hengste unserer Herden den Stuten. Und ebenso unbefangen teilen die Frauen mit einem kräftigen Mann ihr Lager; sie verlangen nichts von ihm, als daß er ihnen Genuß verschafft. Worin unterschied sich die Begegnung mit Chodonla von allen Begegnungen zuvor? Ich war wie ausgehungert; dieses geheimnisvolle, unberechenbare Gefühl schlug in mich ein wie ein Wolkenbruch in rissige Erde. Vielleicht war es nur eine Täuschung. Doch es weckte mich; es gab mir meine Lebenskraft zurück.
    Wenn sie von der Arbeit kam, war sie oft noch geschminkt. Dann war ihr Gesicht fremd, eine Maske. Eine Maske aus rosafarbenem Puder, purpurn gefärbten Lippen, kräftig geschwungenen Augenbrauen. Der Duft ihres Geschlechts mischte sich mit dem Geruch anderer Männer, und dies steigerte mein Verlangen, trieb mich zur Raserei. Eines Abends war sie so betrunken, daß sie vor der Haustür vom Fahrrad stürzte, was einen ziemlichen Lärm verursachte. Außer ein paar Schrammen war sie unverletzt. Ich zog sie hoch, legte ihren Arm um meine Schultern, faßte sie um die Hüfte und führte, oder vielmehr: schleppte sie in die Wohnung hinauf. Dort legte ich sie in ihren Kleidern aufs Bett. Sie

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