Die Tibeterin
hier.«
»Warum auf harten Brettern meditieren, wenn man auf einer Matratze bequemer sitzt?«
Wir lachten beide. Er betrachtete mich, aufmerksam und voller Zuneigung.
»Du bist immer die gleiche. Und trotzdem bist du jedesmal anders.
Du wirst älter, Tara.« Ich seufzte lächelnd. »Ach, findest du?«
Tenzin hatte ein ebenmäßiges Gesicht, große strahlende Augen.
Basketball und Judo hatten aus dem einst schmächtigen Jungen einen Athleten gemacht, starkknochig mit breiten Schultern. Das geschorene Haar brachte seine schöne Kopfform zur Geltung. Sein Lächeln war lebhaft, durchaus nicht weitabgewandt, aber die Tiefen seines Unterbewußtseins reichten weit zurück, in andere Zeiten.
Roman las Bücher über Tibet. Sein Eifer machte mir Spaß, seine Ernsthaftigkeit bezweifelte ich. Tibet war heute »in«, morgen würde es wieder »out« sein. Spätestens nach dem dritten Hollywoodfilm würde man sich an den Mönchen sattgesehen haben. Im Augenblick war Roman fest entschlossen, das Thema zu vertiefen. Als ich ihm mitteilte, daß ich Tenzin treffen würde, wäre er am liebsten sofort mitgekommen. In seiner Vorstellung war mein Bruder eine 48
romantische Figur, ein geheimnisumwitterter Mann, der fliegen konnte. Ich sagte:
»Ein andermal, sei mir nicht böse. Diesmal geht es um eine Familienangelegenheit. «
»Empfängt er keine Besucher?«
»Er ist nicht in Klausur.«
»Ich möchte ihn gern kennenlernen.«
»Das läßt sich machen.«
»Phantastisch! Hör zu, Tara, dein Bruder ist eine Inkarnation. Mal ganz konkret: Wie wird man das?«
In Büchern hatte er einige nützliche Informationen gefunden und jede Menge illusionäre Aufbauten, an denen er sich den Schädel einrannte. Ich sagte:
»Reden wir lieber vom Wetter.«
»Was ich über das Thema lese, ist derart kompliziert, daß ich nichts anderes tun kann, als mich hinzulegen und Kopfweh zu kriegen.«
»Ich will dir kein Kopfweh machen, Roman.«
»Du gehst an Spiritualität sehr locker heran.«
»Es tut mir leid, ich bin nicht in Mystizismus vernarrt. Und in diesem präzisen Punkt weiß ich weniger als andere.«
»Aber du glaubst daran.«
»Es genügt doch zu wissen, daß eine Sache ein logischer Teil dessen ist, was schon immer war. Es muß nicht mehr sein.«
Er kräuselte spöttisch die Lippen.
»Also doch. Credo ad absurdum. Wie alle.«
»Laß es dir gesagt sein.«
»Aber wie sieht es – verdammt nochmal – in der Praxis aus?«
Ich hatte Roman nie für dumm gehalten, entschloß mich zu einem Kompromiß. Ich hoffte, daß ich die richtigen Worte fand.
»Also, wir glauben, daß alle fühlenden Wesen viele Leben durchlaufen und mit jeder neuen Existenz mehr Einsicht gewinnen, bis ihnen die Erleuchtung zuteil wird. Nun gibt es die sogenannten
>Erwachten<, die Bodhistatva, die das schneller schaffen als andere.
Aus Mitgefühl sind sie bereit, sich selbst immer wieder und wieder neu zu verkörpern, und ihre Erfahrungen und Weisheit mit anderen zu teilen. Solche >Erwachten< sind überall am Werk, auf der ganzen Welt und sogar in Tiergestalt. Sie weigern sich zu ruhen, bevor nicht alle Lebewesen befreit sind.«
Roman sah nicht überzeugt aus, aber gut gelaunt. Er gab zu, daß 49
diese Vorstellung durchaus ihren Reiz hatte.
»Wer kommt heutzutage noch mit Kirchendogmen zurecht? Der Begriff >Paradies< inspiriert höchstens die Werbebranche. Ein paradiesischer Ferienort – darunter kann sich jeder etwas Tolles vorstellen. Wenn ich dich also verstanden habe, gibt es bei euch verpfuschte Leben und spätere Leben, die besser sind, richtig?«
»Im Prinzip, ja.«
»Sehr klar ist das nicht, was du da sagst.«
»Ich habe mein Bestes getan.«
»Warte! « rief er. »Was ich noch wissen möchte: Wie erkennt man eine Wiedergeburt?«
Ich zwang mich zur Geduld. Langmut gehört zum Tibeter wie Sushi zum Japaner.
»Wenn weise Lehrer oder Äbte bedeutender Klöster aus dem Leben gehen, bittet man sie, sich der Menschheit wieder zur Verfügung zu stellen. Dann geben die Sterbenden Hinweise, wo gesucht werden muß, machen auf Besonderheiten aufmerksam.
Orakel und Träume sind auch sehr hilfreich. Und wenn ein Kind gefunden wird, das den Angaben entspricht, wird es sich selbst ausweisen.«
»Wie kann es das?«
»Indem es ehemalige Familienmitglieder oder Freunde wiedererkennt, sein früheres Wohnhaus beschreibt oder unter einer Anzahl von Gegenständen sofort jene herausgreift, die es in seinem vorherigen Leben benutzte. Das Kind muß sehr jung sein –
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