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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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zwischen drei und fünf. Es ist dann schon in der Lage, sich sprachlich auszudrücken, gleichzeitig sind seine Erinnerungen an früher noch frisch. Später überlagern sich die Eindrücke zu sehr.«
    »Können auch Männer als Frauen wiedergeboren werden und umgekehrt? Jemand müßte mal einen Film darüber drehen. Das wäre doch komisch, oder?«
    »Die Welt ist nicht nur magisch, sondern auch komisch. Wir Tibeter würden uns krummlachen.«
    Ich erzählte von meiner Großtante Yûdon Rimpoche, die ab und an in Trance zu fallen pflegte und dann mit der Stimme ihrer früheren Inkarnation, eines hohen Gelehrten aus Amdo, sprach. Er erteilte Ratschläge, wie man Kranke heilen konnte.
    Weil Yûdon, wenn sie erwachte, sich an nichts mehr erinnerte, mußte stets jemand dabei sein, der die Anweisungen aufschrieb.
    Aber sobald sie die Aufzeichnungen las, wußte sie genau, was zu tun 50
    war. Kranke kamen von weither, um von ihr geheilt zu werden.
    Daneben war sie für ihr böses Mundwerk bekannt. Klatsch war ihre Lieblingsbeschäftigung. Später wurde sie Äbtissin in einem Frauenkloster und starb erst im Alter von hundertundzwölf Jahren.
    »Und wie steht es mit dir?«
    »Ob ich ein böses Mundwerk habe?«
    »Nein! Ob du deine Großtante bist?« Ich konnte nicht anders als lachen. Ich gab zu, daß sich das Ganze ziemlich surreal anhörte.
    »Leider nicht. Das hätte mir nämlich gefallen.«
    »Du bist doch auch Ärztin.«
    »Nicht so, wie sie es war. Sie nannte sich eine >einfältige Frau<.
    Damit wollte sie ausdrücken, daß ihr jede Gelehrsamkeit abging. Sie sprach sehr höhnisch über ihre Visionen. Ihre frühere Inkarnation nannte sie >den Phrasendreschern Aber unser Leben ist voller Energien, die von den Vorfahren kommen. Im Laufe der Zeit nehmen wir beachtliche Kräfte auf. Was wir lernen müssen, ist, sie gut anzuwenden.«
    »Autosuggestion, ich sehe schon. Aber kann man sich von der Erde erheben, indem man sich irgendwelche Dinge einredet?«
    »Siehst du eine bessere Möglichkeit?« Tibeter wissen, daß sich die Kette der Kontinuität von einem Leben zum anderen spannt. Die Anfangslosigkeit und die Endlosigkeit der Kette bringen uns nicht in Verwirrung; im Gegenteil, die Vorstellung macht uns beherzt. Sie zieht uns in eine Stimmung hinein, die das innerste Zentrum ergreift.
    Vorfahren und Nachkommen bilden diese Kette; die einzelnen Glieder mögen aus Gold, aus Kupfer oder aus Blech sein, alle leuchten im ewigen Licht.
    Roman sah nicht diese Ganzheit; er erkannte sie nicht. Er kam nicht einmal nahe genug an sie heran, um zu sehen, ob es sie tatsächlich gab. Immerhin, die Sache mochte für ihn ein Erlebnis darstellen, wenngleich nur ein verbales.
    Mein Bruder war also ein Rimpoche – ein Erleuchteter. Das machte mir kein Kopfzerbrechen. Tenzin hatte im Goetheinstitut Deutsch gelernt, sein Englisch in Cambridge vertieft. Als Studentin hatte ich ehrfurchtsvoll zu ihm aufgeblickt. Nun war ich Ärztin, mit Bedacht unsentimental, durch die Berührung mit dem menschlichen Leid gestärkt, und zwischen uns war vieles anders geworden.
    Das Wasser kochte. Tenzin hängte zwei Teebeutel in den Kessel.
    »Wie geht es Lhamo?«
    »Sie wohnt jetzt in Bern. Sie arbeitet in einem Reisebüro und hat 51
    sich das Haar geschnitten.«
    Er hob neugierig die Brauen.
    »Oh, wie steht es ihr?«
    »Ihr steht jede Frisur.«
    Wir lachten beide und wurden im gleichen Atemzug wieder ernst.
    »Der Mensch ist sein eigener Lehrmeister«, sagte Tenzin. »Ich finde es richtig, daß sie ihr Haar geschnitten hat. Jede Erfahrung führt eine Entwicklung herbei.«
    »An manchen Tagen kennt man sich selbst nicht«, sagte ich.
    »Nun?« fragte er sanft.
    Ich rieb mir die Stirn.
    »Ich denke so oft an Chodonla. Ich träume sogar von ihr. Das will doch etwas heißen, oder?«
    Er wartete, daß ich weitersprach. Ich sagte ihm, daß ich voller Mißtrauen sei. Vielleicht steckte nichts Geheimnisvolles dahinter, keine Eingebung, keine Vision. Vielleicht.
    »Ein Analytiker würde zu ernüchternden Einsichten kommen. Aber du kennst mich besser.«
    Er nickte mit ernstem Gesicht.
    »Ich kenne dich, in gewisser Weise.«
    »Ich kann mich nicht konzentrieren«, sagte ich. »Ich bin total frustriert.«
    »Ist das alles?«
    »Ist das nicht genug?«
    Er schmunzelte.
    »Der Ausdruck ist nicht von dir.«
    »Nein?«
    »Den hast du aus einer Frauenzeitschrift.«
    Ich grinste zerknirscht zurück.
    »Aber er paßt wie der Deckel auf den Topf.«
    »Bist du da ganz sicher?«
    »Wenn

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