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Die Tibeterin

Die Tibeterin

Titel: Die Tibeterin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Federica de Cesco
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und ich sah im Wasserlauf einen Felsblock, auf dem man das Mantra
    »Om Mani Padme Hum« in wuchtigen Buchstaben eingeritzt hatte.
    Auch auf der schmalen Straße waren die uralten Glückszeichnungen mit weißem Kalk gemalt worden. Vor windschiefen Stupas flatterten an hohen Stangen himmelblaue und weiße Gebetsfahnen.
    »Heute ist Feiertag« sagte Atan. »Das ist gut für uns, da fallen wir nicht auf.«
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    Er hatte mich gewarnt: Schnüffler waren überall. Es kam vor, daß sich Männer des »Public Security Bureau« als Händler oder Bettler tarnten und sich unter die Pilger mischten.
    »Aber wir erkennen sie sofort, sobald sie den Mund aufmachen.
    Auch wenn es Tibeter sind«, ergänzte er achselzuckend.
    Zwischen den klobigen Häusern mit ihren hölzernen Türen und schmalen Fensterschlitzen verstopfte die Menge alle Straßen. Viele drehten Gebetsmühlen, das Murmeln betender Stimmen erfüllte die Luft. Männer und Frauen trugen Pelzkappen, bunte Schultertücher und neue, schön bestickte Filzstiefel. Die Frauen waren mit Silberketten, Blutkorallen und Türkisen geschmückt. Einige alte Menschen zwirbelten Wollgarn auf Handspindeln. Sie taten es ganz entspannt und offenbar aus Gewohnheit, um ihre Hände tätig zu halten.
    Atan erklärte mir, daß im Kloster seit sieben Tagen eine Kalachakra-Initiation stattfand. Heute war der letzte Tag. Die Zeremonie, eine der bedeutendsten des tibetischen Buddhismus, dauerte von Neumond bis Vollmond. Sie war dem großen Mysterium von Zeit und Raum geweiht, denn Kala heißt Zeit und Chakra bedeutet Rad. Wie stark das alles noch hier lebendig ist, dachte ich, mit einem kleinen Schauer der Vorfreude. Es roch nach süßem Tschang, nach Weihrauch und Sandelholz, nach Tierfellen, Schweiß und Yakdung. Ein paar chinesische Soldaten in grüner Uniform lehnten an einem häßlichen Betongebäude, zwei Jeeps standen davor. Weil das Gedränge so groß war, führten Atan und ich unsere Reittiere am Zügel. Die Augen der Chinesen glitten gleichgültig über uns hinweg. Ich preßte die Kiefer aufeinander. Ich mußte blaß geworden sein. Atan hatte nicht einmal mit der Wimper gezuckt.
    Seine Gelassenheit grenzte an Leichtsinn. Oder auch nicht. Gerade seine Besonnenheit war es, die ihn vor Gefahren schützte. Er bewegte sich locker und täuschend arglos, mit der Unbefangenheit und dem ruhigen Blick eines Mannes, der seinem Handwerk nachgeht und sich nicht das geringste vorzuwerfen hat.
    Ein stark ansteigender Pfad, von weißen Steinen gesäumt, führte zum Kloster. Die Steine begrenzten den heiligen Bezirk, den die bösen Geister nicht betreten durften. Auch hier herrschte ein ständiges Kommen und Gehen von Pilgern. Manche krochen auf den Knien hinauf, das schweißglänzende, verzückte Gesicht von der Sonne beleuchtet. Einige trugen ein gelbes Schultertuch und eine rote Kopfbinde. Ein massives Holztor mit Eisenbeschlägen führte ins 407
    Innere des Klosters. Aus der Nähe fiel mir auf, wie alt und baufällig das Gebäude war. Breite, schlecht ausgebesserte Riffe klafften im rotbraunen Mörtel.
    »In der Gegend kommen oft Erdbeben vor«, sagte Atan. »Die Gemeinde ist arm, und das Kloster liegt nicht auf der üblichen Touristenroute. Die Chinesen sind nicht daran interessiert, das Gebäude zu restaurieren.«
    Oberhalb der Fenster flatterten Stoffbahnen. Auf dem Dach waren die vergoldeten Gyaltsen, die Siegeszylinder der buddhistischen Lehre, in bedauernswertem Zustand. Einige Novizen hatten uns in der Menge aufgespürt und rannten uns entgegen: zehn- bis dreizehnjährige Knaben, die Atan freudestrahlend und aufgeregt begrüßten. Sie streichelten die Pferde, ergriffen die Zügel, die Atan ihnen lächelnd überließ. Zu mir sagte er:
    »Sie werden sich gut um die Tiere kümmern.«
    Ein junger Mönch verschwand im Eilschritt und kam ein paar Minuten später in Begleitung eines hochgewachsenen Mannes zurück. Er war festlich in Gelb gekleidet. Tukten Namgang war ein überaus schöner Mann, mit feinen Gesichtszügen, gewölbten Brauen und großen, glänzenden Augen. Als er Atan erblickte, leuchtete sein Gesicht freundlich auf. Seine dunklen Augen schimmerten voller Zuneigung. Wir falteten die Hände, empfingen seinen Segen und überreichten ihm eine der Begrüßungsschärpen, die Tibeter auf Reisen stets bei sich haben. Atan stellte mich vor; er sagte, daß ich Ärztin sei und aus der Schweiz komme. Der Abt hieß mich willkommen, liebenswürdig und etwas in Eile.
    »Im Augenblick herrscht

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